Soziologie:Geschrieben wird nachts

Pierre Bourdieu

Der akademische „Entrepreneur“ ist eine mit Macht ausgestattete Person, durch deren Existenz „Erfahrungen symbolischer Gewalt“ im akademischen Feld geradezu unvermeidbar werden: Pierre Bourdieu.

(Foto: SIPA/SZ DIVERSE)

Der Soziologe Pierre Bourdieu bevorzugte Gruppenarbeit, sah sich selbst als "kollektiven Intellektuellen". Sein langjähriger Mitarbeiter Franz Schultheis beschreibt ihn als Wissenschafts­unternehmer.

Von Steffen Martus

Pierre Bourdieu bekämpfte das akademische Juste Milieu. Er ging als Soziologe nicht allein analytisch auf Distanz zu seiner Umgebung, sondern auch in seinem gesamten wissenschaftlichen "Stil". Besonders unangenehm fand er den Typus des geschmeidigen Meisterdenkers, der zwar bestens vernetzt ist, aber seine Gedanken nur so herausrückt, dass sie ihm solitär zugeschrieben werden. Bourdieu bezog demgegenüber den Posten eines "kollektiven Intellektuellen" und bevorzugte ostentativ Gruppenarbeit. Franz Schultheis arbeitet diese "soziale Einbettung" heraus. Der langjährige Mitstreiter und Herausgeber der deutschen Bourdieu-Ausgabe untersucht den Forscher als "Entrepreneur" eines Wissenschaftsunternehmens.

Bourdieus Rebellion richtete sich gegen jene Intellektuellen, die zwar sehr gern als Kritiker auftreten, das soziale Kastenwesen aber in jeder verhaltenssicheren Geste und jeder wohlgesetzten Redewendung beglaubigen. Gerade die akademischen Welt reproduziert in Kommunikationsformen, Umgangsweisen und Denkstilen permanent jene "feinen Unterschiede", die den sozialen Raum in oben und unten, innen und außen gliedern. Ihnen hat Bourdieu 1979 eine aufsehenerregende Studie gewidmet. Seinen Reflexionsvorsprung erklärt er dabei im Rückblick als Sozialisationseffekt eines "gespaltenen Habitus": Der Aufsteiger aus einem bäuerlichen und kleinbürgerlichen Milieu ist Teil des akademischen Establishments, ohne je wirklich dazuzugehören. Aus dieser distanzierten Position verwandeln sich akademische Routinen in einen Forschungsgegenstand, während den Mitspielern ihr Alltag viel zu vertraut sei, um darin ein Problem zu erkennen.

Blickt man nur auf die "fulminante Karriere", wäre Bourdieu eigentlich ein guter Beleg für genau jene Aufstiegsmobilität, die er in seinen empirischen Studien immer wieder als bloße Parole entlarvte. Aber kein noch so erfolgreicher Drittmittelantrag, keine Auszeichnung, keine der unzähligen Interviewanfragen, keiner der vielen Key-Note-Vorträge, kein überfüllter Vorlesungssaal und kein Bucherfolg glichen das mangelnde Dazugehörigkeitsgefühl aus.

Warum funktionieren Bourdieus Kollaborationen am besten mit jungen Kollegen?

Bourdieu bezahlte seinen Erkenntnisgewinn mit bohrenden Selbstzweifeln. Nach außen verarbeitete er seine Unsicherheit nicht zuletzt in wilden Polemiken. Nach innen artikulierten sich die Zweifel am eigenen Erfolg in unermüdlicher Arbeit und eben vor allem in dem Versuch, sich als Teil eines Forschungs- und Lehrkollektivs ein vertrautes, verständiges Milieu selbst zu erschaffen.

Schultheis' Analyse des Bourdieu-"Unternehmens" führt mithin ins Zentrum der akademischen Praxis. In dem leider sehr knapp geratenen Text stecken mehrere große Studien. Zunächst tritt Schultheis als Apologet auf. Er verteidigt sein Idol gegen stereotype Vorbehalte und plädiert für Nachsicht. Zumal die Bemerkungen über zerbrochene Freundschaften und Allianzen verlieren sich jedoch in Andeutungen für Eingeweihte. Warum funktionierten Bourdieus Kollaborationen am besten mit jungen Forscherinnen und Forschern? Warum kam es regelmäßig zu Zerwürfnissen und übler Nachrede, nachdem Mitarbeiter mit einer erfolgreichen Publikation "aus dem Schatten" Bourdieus herausgetreten waren?

Während sich die wissenschaftliche Rezeption vor allem auf die Texte Bourdieus konzentriert, betont Schultheis generell die Aktivitäten jenseits des schriftlichen Werks. Bourdieu investierte ab einem bestimmten Zeitpunkt das "symbolische Kapital", das er als Wissenschaftler erworben hatte, gezielt in öffentliche Aufmerksamkeit. Als Moment dieser "biographischen Konversion" gilt gemeinhin eine Rede, die er im Dezember 1995 vor streikenden Bahnangestellten gehalten hat. Schultheis lenkt den Blick jedoch von diesem Medienereignis ab und betont stattdessen die Bedeutung einer zwei Jahre später veranstalteten Tagung. Dort generalisierte Bourdieu seine politische Diagnose, fasste Prekarität als allgemeines Problem und initiierte eine europäische Protestbewegung.

Die Resultate blieben letztlich hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. "Der real utopische Entwurf eines kollektiven Intellektuellen" kollidierte mit den "Realitäten" von Wissenschaftlern, die in ihren "Relevanz-und Plausibilitätsstrukturen" befangen blieben. Erneut irritiert der vorwurfsvolle Analyseverzicht. Müsste man aus der Perspektive von Bourdieus Habitus-Theorie nicht genau mit solchen Übersetzungsproblemen zwischen akademischer und politischer Praxis rechnen?

Seine Publikationen verfasste er am Abend und in der Nacht, wenn er allein war

Besonders aufschlussreich sind die vielen Szenen des Scheiterns. Sie bieten eine gute Gelegenheit, um die trivialen und eben deswegen sehr effektiven Praktiken der Wissenschaft besser zu verstehen.

So zeigt sich immer wieder, dass Bourdieus politische Erwartungen "unrealistisch" waren, weil sich deren Umsetzung schlicht als zu "arbeitsaufwendig" und als zu "kostspielig" erwies. Man sieht, wie der wissenschaftliche Arbeitsalltag, das Forschungs- und Publikationsgeschäft, die akademische Selbstverwaltung und die Prozeduren der Drittmitteleinwerbung oder des Lehrbetriebs die Akteure beanspruchen und überfordern. Bourdieu etwa war tagsüber ganz von Tätigkeiten absorbiert, die in keinem Evaluationsbericht angemessen erfasst werden: Bürokratie, Öffentlichkeitsarbeit, Teamsitzungen zur Anbahnung und Verwaltung von Projekten, Nachwuchsförderung, Korrektur- oder Redaktionsaufgaben.

Seine Publikationen verfasste er am Abend und in der Nacht, wenn er sich an seinen Schreibtisch zurückziehen konnte. In der blauen Stunde vermischten sich dann die Tag- und Nachtsphären. Jeden Morgen brachte Bourdieu Manuskripte ins Sekretariat, die - "abgetippt und in Form gebracht" - an sein Team weitergereicht wurden, verschickte Anweisungen zu anstehenden Projekten und Aktivitäten oder griff gleich zum Telefonhörer und holte seine Mitarbeiter aus dem Bett.

Betrachtet man Wissenschaftler aus der Unternehmerperspektive, dann betreffen Eingriffe in den Betriebsablauf - die Kürzung von Mitarbeiter- oder Sekretariatsstellen, die Erhöhung des Lehrdeputats oder der Prüfungsbelastung - keine Nebensächlichkeiten. Der Protest gegen die mangelnde "Grundausstattung" von Professuren lässt sich nicht einfach auf die Kränkung von Narzissten zurückführen, die möglichst vielen Leuten etwas zu sagen haben wollen. Es geht nicht um Einzelpersonen, die sich nur in der Sondersituation von drittmittelintensiven Forschungsverbünden kollektivieren.

Die wissenschaftspolitische Herausforderung besteht vielmehr darin, intellektuelle Alltagsmilieus zu befördern, die so stabil sind, dass sie ein gewisses Maß an Vertrautheit ermöglichen. Immer wieder verweist Schultheis darauf, dass gemeinsame Forschung dann gelingt, wenn sich Personen in ihren Denkstilen und Umgangsformen aneinander gewöhnt haben. Zumal Lerneffekte stellen sich in informellen Vermittlungspraktiken ein, etwa durch einen Kommunikationsstil, durch die Abneigung gegen bestimmte Fragestellungen, Sympathien für bestimmte Theorien oder durch die Art, wie die Aufmerksamkeit verteilt wird.

Die Kehrseite dieser kollektiven Intellektualität besteht darin, dass Personen, die keine Zeit haben, um sich aufeinander einzurichten, nicht so gut zusammenarbeiten. Immer wieder macht Bourdieu die Erfahrung, dass soziale Überdehnung in Großprojekten die Wissenschaft ebenso wenig voranbringt wie der Versuch, exzellente Forschergruppen nach organisatorischen und intellektuellen Idealvorstellungen am Reißbrett zusammenzustellen.

Für die aktuelle Diskussion um den Status des "wissenschaftlichen Nachwuchses" ist darüber hinaus Schultheis' Bemerkung intrikat, dass es sich beim akademischen "Entrepreneur" um eine "mit Macht ausgestattete Person" handle und dass durch die Konzentration selbst von gut begründeter Autorität "Erfahrungen symbolischer Gewalt" geradezu unvermeidbar würden. Obwohl Bourdieu seine soziale Schutzzone insbesondere bei der jüngeren Generation suchte, verweist die "beachtliche Verlustrate an engen Mitarbeitern" auf eine "besondere sozialpsychologische Problematik", vor allem aber auf die Frage, ob man einige Kooperationsdefizite zwar möglichst gering halten, letztlich aber als Investitionen verbuchen sollte. Oder hätte sich der hohe Gewinn des "Unternehmens Bourdieu" auch ohne solche Hierarchieeffekte erwirtschaften lassen?

Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht. Transcript Verlag, Bielefeld 2019. 106 Seiten, 14,99 Euro.

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