Soziologie:Der Appell an die Moral bleibt folgenlos

Organspende-Skandal Göttingen
(Foto: Emily Wabitsch/dpa)

Das Beispiel Organspende zeigt: Der Staat muss in die Freiheit des Einzelnen eingreifen.

Von Andreas Diekmann

Es gibt Reformen, die keine Kosten verursachen, aber dennoch Wohlfahrt und Lebensqualität von Betroffenen wesentlich verbessern können. Wer die Leiden von Patienten gesehen hat, die auf den Wartelisten für eine Transplantation stehen und oft monate- oder gar jahrelang voller Hoffnung auf eine Organspende warten, fragt sich, weshalb nicht längst gehandelt wurde. Hier geht es um Leben und Tod oder mindestens die Verringerung von Leiden für eine große Anzahl Betroffener. Beispielsweise Dialysepatienten, denen eine Spenderniere helfen könnte.

Die Menschen brauchen Eingriffe des Staates in ihre Freiheit

Die Skandale um die Verletzung der Regeln bei der Auswahl von Empfängern haben in jüngster Zeit ein großes Echo hervorgerufen und die Öffentlichkeit erschüttert. Der eigentliche Skandal ist aber, dass die Aufregung nur der - in Einzelfällen - regelwidrigen Verteilung gilt, die Knappheit oder besser Verschwendung potenzieller Organspenden aber überhaupt nicht thematisiert wurde.

Wahrscheinlich könnte man mit einer in Nachbarländern längst praktizierten Reform mehr Leben retten als mit allen Abwehrmaßnahmen gegen Terrorismus. Gemeint ist die Widerspruchsregelung. Das heißt: Man steht nur dann nicht für eine Organspende nach dem Tod zur Verfügung, wenn man es ausdrücklich nicht erlaubt. Stattdessen flüchtet man sich - wie so oft, wenn klare und effektive Maßnahmen gescheut werden - in Kampagnen mit Prominenten, die mit Organspenderausweis auf Werbeplakaten posieren. Der Erfolg solcher Kampagnen dürfte nahe null sein; die Anzahl der Post-mortem-Organspenden ist jedenfalls, wie gerade zu erfahren war, auf einen Tiefstand gesunken.

Warum also nicht die Widerspruchsregelung einführen, wie in Österreich oder vielen anderen europäischen Ländern? Die Frage berührt die Debatte um Liberalismus und Paternalismus: Wäre das ein zu großer Eingriff in die Freiheit, die der Staat tunlichst unterlassen sollte? Es gibt aber längst andere freiheitsbegrenzende Regelungen wie die Gurtpflicht, die nachweisbar zahlreiche Leben gerettet hat und heute allgemein akzeptiert wird. Wer aus Gewissensgründen, aus Angst vor den Folgen einer Hirntoddiagnose, aus religiösen oder anderen Gründen grundsätzlich nicht zur Spende bereit ist, der kann mit geringem Aufwand widersprechen. Wem dieser Aufwand zu hoch ist, kann es hingegen mit der Ablehnung einer Post-Mortem-Spende nicht allzu ernst nehmen.

Natürlich ist die Widerspruchsregel kein Allheilmittel. Auch andere Maßnahmen sind wichtig, wie sie Kenner des Klinikalltags empfehlen. Dazu zählt vor allem die Sorge für entsprechend fortgebildete und sensible medizinische Fachkräfte, die als Transplantationsbeauftragte für Organspenden in den Kliniken tätig werden. Dass aber das Prinzip "opt out" im Vergleich zum "opt in" der bisherigen Zustimmungsregel tatsächlich die Bereitschaft zu Organspenden erhöht, zeigen wissenschaftlich kontrollierte Studien. So fanden die Ökonomen Alberto Aberdie und Sebastian Gay bei einem Vergleich von 22 Ländern über zehn Jahre (und bei Berücksichtigung weiterer Merkmale wie Gesundheitsausgaben, Blutspenden und so weiter) eine um 25 bis 30 Prozent erhöhte Bereitschaft zu Organspenden bei der Widerspruchs- im Vergleich zur Zustimmungsregel.

Auch in anderen Bereichen, in denen weit weniger hohe Güter als Gesundheit und Leben auf dem Spiel stehen, werden kleine motivierende Schubser ("nudges") eingesetzt, etwa um klimaschädliche Emissionen zu bremsen. Eine Zürcher Studie hat in Zusammenarbeit mit einem Schweizer Energieversorger ermittelt, dass der Wechsel von der Zustimmungs- zur Widerspruchsregel selbst bei Geschäftskunden den Anteil der Bestellungen "grünen" Stroms um 80 Prozentpunkte erhöht hat, obwohl der grüne Strom etwas teurer als der konventionelle war. In einem Experiment in Schweden wurden Angestellte gebeten, Dokumente aus Umweltgründen doppelseitig auszudrucken. Der Appell an die Moral blieb folgenlos. Wenn aber der Drucker auf "doppelseitig" voreingestellt wurde, bei völliger Freiheit, die Einstellung nach Bedarf ändern zu können, sank der Papierverbrauch erheblich. Das mag banal klingen, aber solche kleinen Anreize können das Verhalten in hohem Maße beeinflussen, wie wir nicht erst seit dem Wissenschaftsbestseller des Autorengespanns von Nobelpreisträger Richard Thaler und Cass Sunstein über "Nudging" wissen.

Kritiker wenden die Manipulationsgefahren ein, und sie könnten bei einigen Anwendungen durchaus recht haben. Bei einer Umstellung auf die Widerspruchsregelung zu postmortalen Organspenden geht es aber um die Rettung einer Vielzahl von Leben oder um die Verbesserung der Gesundheit stark leidender Menschen. Würde man sich einer mit Blaulicht ins Spital eilenden Ambulanz in den Weg stellen, weil der Vorrang von Krankenfahrzeugen die Freiheit eines Autofahrers behindert? Sicher nicht! Genauso gilt es hier, sich der vermeintlich paternalistischen Verbesserung nicht in den Weg zu stellen, zumal jeder ja das Recht hätte, nein zu sagen.

Andreas Diekmann ist emeritierter Professor für Soziologie an der ETH Zürich und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

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