Süddeutsche Zeitung

Soziologie:Abrutschen aus der Sicherheit

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Reden wir so viel über Aufstieg, weil es ihn in der Wirklichkeit immer seltener gibt? Oliver Nachtwey entwirft ein komplexes Bild der "Abstiegsgesellschaft".

Von Jens Bisky

Nicht nur Kinder rennen ab und an Rolltreppen entgegen der Laufrichtung empor. Einmal kann es gelingen, auch zweimal, aber ein ganzes Leben lang möchte wohl keiner so sich verausgaben. Und wer dazu verdonnert ist, der dürfte von einer Rolltreppe träumen, die ihm den Aufstieg erleichtert. Dann müsste er nur noch die vielen vor ihm überholen und keinen der Nachdrängelnden vorbeilassen. Die Rolltreppen-Metapher erfasst ein Gegenwartsgefühl. Andere sprechen vom Eindruck, bei angezogener Handbremse ständig Gas zu geben. Viel mehr als ein Durchdrehen der Reifen und Ermüdung des Fahrers kommt nicht zustande, solange die Bremse sich nicht lösen lässt.

Beflissenes Bemühen um den Statuserhalt und Angst vor dem Abstieg prägen die soziale Atmosphäre; Rekordmeldungen über Beschäftigtenzahlen oder Lohn- und Rentenerhöhungen scheinen daran wenig ändern zu können. Die Konjunktur auf dem Markt der Krisendiagnosen wird wohl noch lange anhalten. Eine neue hat nun der Soziologe Oliver Nachtwey, derzeit Fellow am Frankfurter Institut für Sozialforschung, vorgelegt. Sein Buch über die "Abstiegsgesellschaft" führt verschiedene, oft getrennt geführte Diskussionen klug zusammen.

Die alte Bundesrepublik, das war die "soziale Moderne" und ihr Normalarbeitsverhältnis

Nachtwey verbindet Beobachtungen zur Postdemokratie mit Befunden über die neuen Unterschichten, über prekäre Arbeitsverhältnisse und eine Mittelschicht unter Druck sowie Thesen über einen stagnierenden Kapitalismus, in dem kaum noch mit Wachstum gerechnet werden kann. Aber das ist noch nicht alles. Besonders aufschlussreich wird sein Essay, weil er heutige Diagnosen und die Selbstbeschreibungen der alten Bundesrepublik - von Dahrendorf über Habermas bis hin zu Ulrich Beck - ineinander spiegelt und abschließend die unkonventionellen Protestkollektive - Stuttgarter Wutbürger, Occupy, Pegida - mustert. Die Argumentation orientiert sich vor allem an Ulrich Becks "Risikogesellschaft" aus dem Jahr 1986. Nachtwey gelingt es, den Klassiker plausibel zu aktualisieren und zu überschreiben. An die Stelle der "reflexiven Moderne" Ulrich Becks - der Modernisierungsprozess wird selbst zum Thema und zum Problem - tritt für Nachtwey die "regressive Moderne": Gegenwartsgesellschaften fallen hinter das erreichte Niveau sozialer Integration zurück. Sie fragmentieren sich, durchleben Polarisierungen, Schübe der Exklusion. Man mag den Thesen von der "Abstiegsgesellschaft" an einigen Punkten widersprechen, der Autor selbst weist darauf hin, wo empirische Belege fehlen, Studien ausstehen. Eine vergleichbar verständliche, meist präzise formulierte und in sich stimmige Krisenerzählung dürfte auf dem deutschen Buchmarkt schwer zu finden sein. In der Postdemokratie wird der politische Konflikt stillgestellt zugunsten eines "über Expertentum, Verrechtlichung und die Konstruktion von Sachzwängen" erschlichenen Konsenses. Wem das gegen seine Selbstachtung als Staatsbürger geht, der findet in Nachtweys "Abstiegsgesellschaft" jene Räume erhellt, in denen Konflikte ausgetragen werden müssen.

Am Anfang steht das typisierte Bild der alten Bundesrepublik: stabil, sozial abgesichert, demokratisch auf der Basis wirtschaftlichen Wohlstands. Diese Epoche nennt Nachtwey "soziale Moderne", sie befand sich seit 1973 in der Krise und endete in etwa mit der Agenda 2010.

Der Fels, auf dem sich die im Rückblick immer rosiger erscheinenden Verhältnisse der "sozialen Moderne" entwickelten, war das Normalarbeitsverhältnis: "die unbefristete, dem Kündigungsschutz unterliegende und sozialversicherungspflichtige Vollzeiterwerbstätigkeit als Voraussetzung einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung".

Auch heute gibt es noch eine große Zahl an Normalarbeitsverhältnissen, aber die Lage hat sich grundsätzlich verändert. Zur Veranschaulichung führt Nachtwey den Leser in die Fabrik eines deutschen Automobilherstellers, eine arg moderne, eine "atmende Fabrik". Die Stammbelegschaft erfreut sich guter Bedingungen; die Leiharbeiter haben - dank Gewerkschaft und Betriebsrat - formal gleiche Bedingungen erkämpft. In der Werkshalle markiert eine blaue Linie die Grenze zwischen den Beschäftigten des Herstellers und den Werkverträglern. Ein Logistikunternehmen liefert als Werkvertragsdienstleister Materialien. Sein Personal ist schlechtergestellt. Um den Verdacht, es handele sich um einen Scheinwerksvertrag, gar nicht erst aufkommen zu lassen, darf die blaue Linie nicht überschritten werden. Ein paar Hundert Meter entfernt steht die Fabrikhalle eines Zulieferers, der Leiharbeiter aus sieben Verleihunternehmen beschäftigt, und zwar unter - verglichen mit den Stammarbeitern des Hauptunternehmens - miserablen Bedingungen. Ähnliche Hierarchien lassen sich vielfach finden. Das hat Folgen für alle. Auch wer ein Normalarbeitsverhältnis ergattert hat, erlebt jeden Tag, wie die Faust des Marktes gut hörbar an die Tür klopft. Abstieg ist eine stete Möglichkeit, Aufstieg oft eine Illusion.

Das Auf und Ab heute in der "regressiven Moderne" könnte autoritär stillgestellt werden

An dieser Stelle muss das Stichwort Neoliberalismus fallen. Nachtwey hält sich zum Glück nicht lange mit der Wiederholung bekannter Klagen auf. Er fragt, wie "neoliberale Komplizenschaft" entstehen, breite Zustimmung erzeugt werden konnte. Bereits auf dem Höhepunkt der "Sozialen Moderne" meldete sich Kritik am "sozial-bürokratischen Gehäuse aus Standardisierungen, Normierungen und Homogenisierungen". Populär wurde sie als "Künstlerkritik" an Sozialstaat und Industriekapitalismus. Beides behinderte den Einzelnen, seine Autonomie zu entfalten, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben. Die Gewerkschaften kümmerten sich um "vertikale Ungerechtigkeiten", der Neoliberalismus ging einher mit Emanzipationserfolgen von Frauen, Schwulen, Migranten, der "Verringerung horizontaler Diskriminierung entlang kultureller Merkmale". Es ging um Gleichberechtigung und Identität, weniger um Ausbeutung. Wer von den Freiheitsgewinnen der neoliberalen Individualisierung nicht reden will, kann kaum ihre paradoxen Effekte begreifen: Jeder und jede ist im Zeichen der Chancengleichheit stärker als zuvor dem Markt ausgesetzt, doch werden die Marktergebnisse dennoch nicht nach dem Leistungsprinzip verteilt. Geburtsdaten und Postleitzahlen werden wieder Schicksalsmächte, Lebenswege unsicher.

Den Aufbegehrenden der Gegenwart, so Nachtwey, fehlen einleuchtende Visionen. Die Verklärung der "sozialen Moderne" hilft wenig, ein Zurück zu ihr wird es nicht geben. Es wäre auch nicht wünschenswert. Der Teilemanzipation der arbeitenden Klassen standen gegenüber: Raubbau an der Natur, Diskriminierungen, beschränkte Autonomie. Neben linkem Aufbegehren, das politisch oft amorph bleibt, steht ein "marktkonformer Extremismus", der die liberale Geschäftsordnung im Ganzen verwirft. Das Auf und Ab in der "regressiven Moderne" könnte auch autoritär stillgestellt werden. Aus dieser Furcht gewinnt Nachtweys Buch seine beunruhigende Kraft. Endlich eine dezidiert linke Kritik, die nicht den Normen von vorgestern folgt oder eine Renationalisierung beschwört, endlich eine, die aus dem Wust der Einkommens- und Vermögensstatistiken hinaus führt aufs freie Feld. Auf dem wäre etwa über Arbeitnehmerrechte zu streiten.

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 264 Seiten, 18 Euro. E-Book 17,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 29.06.2016
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