Sozialtourismus ist Unwort des Jahres:Stimmungsmache gegen unerwünschte Zuwanderer

Sozialtourismus ist das Unwort des Jahres. Sprachwissenschaftler üben heftige Kritik an der Debatte um armutsbedingte Zuwanderung, Migrationsforscher Herbert Brücker hält den Ausdruck für irreführend. In einem Ort in Bayern aber sind Sozialtouristen gern gesehen.

Von Kathrin Haimerl

Im niederbayerischen Kurort Bad Füssing kommt der durchschnittliche Sozialtourist aus Deutschland, ist 62 Jahre alt, steht "aktiv im Leben" und tut etwas für seine Gesundheit: Noch bis vor 20 Jahren war der Kurort bis zu 90 Prozent von Sozialtourismus abhängig, sagt Kurdirektor Rudolf Weinberger im SZ-Gespräch. Von Menschen also, die ihren Aufenthalt teilweise oder ganz von der Krankenversicherung bezahlt bekamen.

So nämlich lautet die ursprüngliche Definition von Sozialtourismus: Fremdenverkehr, der auf irgendeine Weise von den Sozialversicherungsträgern gefördert wird. Es geht also um das allgemeine Bedürfnis nach Erholung, Entspannung und Sammlung, das auch einkommensschwache Bevölkerungsschichten und Kranke haben.

Faul und unerwünscht

Inzwischen aber weckt der Begriff ganz andere Assoziationen: Nämlich die vom faulen und unerwünschten Zuwanderer - meist aus Osteuropa -, der sich auf der Europakarte das Land herauspickt, das die höchsten Sozialleistungen zahlt. Mit der Kür des Begriffs "Sozialtourismus" zum Unwort des Jahres 2013 sollen das Sprachbewusstsein in der Bevölkerung gefördert und die Bürger bezüglich unangemessener oder inhumaner Formulierungen sensibilisiert werden. Die Jury begründete ihre Entscheidung in diesem Jahr wie folgt: Von einigen Politikern und Medien sei mit diesem Ausdruck "gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa" gemacht worden. Das Wort "Sozial" reduziere die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren.

Gebraucht hatte den Begriff unter anderem der CDU-Politiker Günter Krings, der in einem Interview mit der Zeit sagte: "Sozialtourismus kann sich auch ein reiches Industrieland wie Deutschland nicht leisten."

Aus der EU-Kommission kamen widersprüchliche Signale über mögliche Auswirkungen armutsbedingter Zuwanderung. Einerseits verwies man auf Studien, wonach die Zuwanderer keinesfalls eine Belastung für die Sozialsysteme der wohlhabenderen EU-Länder darstellen würden. Andererseits sagte EU-Justizkommissarin Viviane Reding im Dezember vergangenen Jahres der Nachrichtenagentur AFP: "Es gibt ein Recht auf Freizügigkeit, aber kein Recht auf Einwanderung in die nationalen Sozialsysteme." Und weiter: "Freizügigkeit heißt nicht, frei Sozialleistungen zu beziehen. Laut EU-Recht haben nur arbeitende EU-Bürger ein Recht auf Sozialleistungen."

Gewinn aus Osteuropa

Vergangenen Dienstag erst stellte die EU Leitlinien zum Anspruch auf Sozialleistungen in den EU-Staaten vor - was zeigt, wie sehr sie sich durch die Debatte unter Druck gesetzt fühlte. "Es gibt eindeutige Vorkehrungen im EU-Recht, um zu verhindern, dass Menschen die Sozialsysteme anderer EU-Staaten missbrauchen", sagte EU-Sozialkommissar Laszlo Ándor. Den polyglotten Ungarn dürfte es geschmerzt haben, dass ausgerechnet er das Papier vorstellen musste. Denn angesprochen auf vermeintlichen "Sozialtourismus" hält Ándor gerne leidenschaftliche Plädoyers für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und rechnet vor, dass Bulgaren und Rumänen eben keine Belastung für die sozialen Sicherungssysteme darstellen.

Der Migrationsforscher Herbert Brücker, Professor am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), ärgert sich über die deutsche Debatte: "Die Unterstellung, dass die Migranten hierherkommen, um von Sozialleistungen zu profitieren, ist falsch und kann durch die Daten nicht belegt werden", sagt er Süddeutsche.de.

Insbesondere den Begriff "Armutsmigration" hält er für problematisch. Natürlich stellten Einkommensunterschiede einen Anreiz für Migranten, dies sei aus volkswirtschaftlicher Sicht auch erwünscht und die Idee, die hinter der Freizügigkeit stecke. "Dabei handelt es sich aber überwiegend um Arbeitsmigration und nicht überwiegend um Zuwanderung in die Sozialsysteme", so Brücker.

Durchs soziale Netz gefallen

Aus Sicht des IAB seien die Einwanderer aus Osteuropa ein Gewinn: Denn obwohl es sich bei Bulgarien und Rumänien um einkommensschwache Länder handele, herrsche dort ein hohes Bildungsniveau. Zwei Drittel dieser Zuwanderer seien im Sommer 2013 erwerbstätig gewesen. "Netto stellen sie einen Gewinn für die sozialen Sicherungssysteme dar" (genaue Zahlen dazu finden Sie in diesem Artikel).

Brücker leugnet aber auch nicht die Probleme. Etwa, dass Einwanderer in Städten wie Dortmund und Duisburg teils unter unmenschlichen Umständen leben, und hier also noch am ehesten von Armutsmigranten gesprochen werden kann: "Das hat nichts mit Sozialtourismus zu tun, sondern mit Menschen, die durch unser soziales Netz fallen", sagt der Wissenschaftler. 70 bis 75 Prozent der Betroffenen haben keinen Anspruch auf soziale Leistungen, sind aber auch nicht erwerbstätig. Für die betroffenen Kommunen stelle dies eine hohe Belastung dar.

Aus diesem Grund plädiert er für eine differenziertere Debatte: "Man sollte über alles reden können, alle sozialen Probleme ansprechen, nichts verschweigen. Gleichzeitig aber sollte man auch betonen, dass viele Bulgaren und Rumänen in Deutschland gut integriert sind." Zu dieser Debatte könnte das Unwort des Jahres einen ersten Anstoß geben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: