Ljudmila Ulitzkajas Buch "Eine Seuche in der Stadt":Wenn die Pest ein Trost ist

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"Noch will ich keinen Eisernen Vorhang zwischen mir und meiner Heimat errichten": Ljudmila Ulitzkaja. (Foto: Claudia Thaler/picture alliance)

Ljudmila Ulitzkaja erzählt in ihrem neuen Buch "Eine Seuche in der Stadt" beunruhigend lakonisch davon, wie in der Sowjetunion einmal beinahe eine katastropale Epidemie ausgebrochen wäre.

Von Burkhard Müller

Wer unter der Corona-Pandemie und den sie begleitenden Maßnahmen ächzt, für den hat die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja einen Trost parat: Es könnte auch die Pest sein. Corona überleben ungefähr 98 Prozent der Patienten, Lungenpest ziemlich genau null Prozent.

Eher durch Zufall ist die 1943 geborene Ulitzkaja, von Beruf Biologin, diesmal auf ihren Stoff gestoßen: Im Jahr 1939, kurz nach den Schauprozessen, aber noch vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, infizierte sich in einem mikrobiologischen Labor der Sowjetunion einer der Forscher, und zwar unmittelbar bevor er zu einer Reise nach Moskau aufbrach, um auf einer Tagung seine Ergebnisse zu präsentieren.

Alle Voraussetzungen für eine unkontrollierbare Epidemie lagen damit vor. Dank der hohen Effizienz der sowjetischen Medizin und der noch höheren des Geheimdienstes NKWD wurde sie abgewendet. Ulitzkaja hatte schon in den Siebzigern versucht, daraus einen Film zu machen, damit aber, kaum verwunderlich, keinen Erfolg gehabt. Jetzt, in Corona-Zeiten, hat sie ihre alten Unterlagen wieder ausgegraben und ein Buch geschrieben.

Nebenbei entsteht auch ein Panorama der Gesellschaft in den Jahren des Stalinismus

Man merkt "Eine Seuche in der Stadt" an, dass es eigentlich ein Film hätte werden sollen - keineswegs zu seinem Schaden. Der Verlag hat dankenswerterweise darauf verzichtet (wie es sonst fast immer bei Texten über 70 Seiten geschieht), es als Roman zu deklarieren, und stattdessen "Szenario" unter den Titel gesetzt. Das trifft es. Es besteht aus lauter kurzen Szenen, und diese überwiegend aus Dialogen; die Passagen dazwischen tragen den Charakter von Regieanweisungen.

Entsprechend den ausgreifenden Quarantänemaßnahmen treten Dutzende Akteure auf, so viele, dass am Schluss des schmalen Bandes das Personal noch einmal in einer mehrseitigen Übersicht zusammengefasst werden muss, nach Gruppen geordnet und mit ihren dreiteiligen russischen Namen für den westlichen Leser nicht ohne Anstrengung im Gedächtnis zu behalten. Als Letzter in der Kategorie "Sonstige" erscheint ein "sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent", der nur ein paar knappe Auftritte hat, aber selbstredend die Hauptfigur ist - neben der Pest natürlich.

Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt. Szenario. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2021. 112 Seiten, 16 Euro. (Foto: N/A)

Nebenbei entsteht so auch ein Panorama der Gesellschaft in den Jahren des Stalinismus, oder besser eine Fülle punktueller Einblicke. Auf der Eisenbahnfahrt hat der Mikrobenforscher (der, ohne es zu wissen, schon den Keim des Todes in sich trägt) als Reisegefährten einen Gänsezüchter, der daran glaubt, dass das Vieh nur "erzogen" werden muss, und dann könnte es ohne Ställe den sibirischen Winter ertragen. Als seine mitgeführten Gänse unterwegs erfrieren, bricht er in Tränen aus: Aber sie hätten schon viel tiefere Minusgrade ausgehalten!

Eine Frau und Parteigenossin der ersten Stunde, die ihren Mann für verhaftet halten muss, unterwirft sich der quälenden Selbsterforschung, denn die Partei kann ja nicht irren, und kommt zum Ergebnis, dass sie schon lang bei ihrem Gatten kleinbürgerliche Abweichungen wahrgenommen hat; der aufnehmende Bürokrat, der weiß, dass es sich bloß um Quarantäne und nicht ums Straflager handelt, dies aber gemäß höherer Weisung nicht mitteilen darf, versucht sie vergeblich davon abzubringen, eine entsprechende Denunziation zu Protokoll zu geben. Und aus einem gestohlenen Paar mit Hundepelz gefütterter Winterstiefel ergibt sich eine nur halb komödienhafte Nebenhandlung, denn ohne solches Schuhwerk kann man in Russland nicht überleben.

Jeder der Festgesetzten muss glauben, dass ihm Genickschuss oder Gulag bevorstehen

Die große Streubreite im Raum und das hohe Tempo entsprechen formal wie inhaltlich den Vorgängen. In fliegender Hast werden die Kontaktwege nachgezeichnet und die aufgefundenen Personen isoliert. Öffentliche Debatten über Maskenpflicht und Bürgerrechte finden nicht statt und wären in dieser brandgefährlichen Situation auch wohl eher kontraproduktiv gewesen. Stattdessen rücken die "Schwarzen Raben" aus, die Transportwagen der Polizei, und die Beamten tun, worin sie in den vergangenen Jahren einige Übung erlangt haben: nachts an Türen klopfen und Leute mitnehmen.

Jeder der Festgesetzten muss glauben, dass ihm Genickschuss oder Gulag bevorstehen; einer von ihnen nutzt die wenigen Sekunden, die ihm bleiben, zum Selbstmord durch Kopfschuss, das wäre wohl unter die Kollateralschäden zu rechnen. Mit der Aufklärung der zu Tode Geängstigten haben es die offiziellen Stellen nicht eilig. Widerstrebend räumt Ulitzkaja, die zu Putins bekanntesten und beherztesten Kritikern gehört, in ihrem Nachwort ein, dass in diesem Fall der Geheimdienst und seine Methoden doch etwas Positives bewirkt hätten. "Die Sicherheitsorgane waren stärker als die Kräfte der Natur. Das bietet Stoff zum Nachdenken ..." Die drei Pünktchen deuten an, dass die Autorin diesen Prozess noch nicht abgeschlossen hat.

Gelesen hat man das Buch in zwei Stunden - und danach das Gefühl, als wäre direkt neben einem ein Güterzug mit hoher Geschwindigkeit vorbeigefahren. Es klingeln noch die Ohren. Als alles vorüber und die Gefahr gebannt ist, kommt es zu folgender Szene: "Bei Bezirksarzt Kossel zu Hause. Seine Frau sitzt im Sessel. Vor ihr auf dem Tisch liegt das Foto des Sohnes [eines vermissten Polarforschers, dessen Tod sie nicht verwunden hat]. ,Serjosha? Ich dachte, du kommst auch nicht wieder. Serjosha? Was war das, Serjosha?' Sie sieht ihn an, und zum ersten Mal ist ihr Blick aufmerksam und konzentriert. ,Dina, es war die Pest. Nur die Pest!', antwortet Kossel und umschließt mit beiden Händen die mageren Hände seiner Frau. ,Nur die Pest?', fragt Dina. Er nickt. ,Und ich dachte ...'"

Was sie dachte, braucht sie nicht auszuformulieren, jeder in diesem Riesenland weiß es in diesen Jahren ohnehin; und es wäre auch sehr gefährlich, es genauer sagen zu wollen. Es gibt Gesellschaftsordnungen, wo es ein Trost sein kann, wenn es nur die Pest ist. Dass diese und alle anderen Szenen im Deutschen so knapp, lebendig und beunruhigend wirken, verdanken sie der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt.

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