Sowjetunion:Erinnerung, sprich!

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Babij Jar bei Kiew war der Ort der größten deutschen Mordaktion in der Sowjetunion. Warum hier lange kein Mahnmal stand.

Von Mischa Gabowitsch

Am 13. März 1961 hatte der Holocaust ein Nachspiel. Im September 1941 hatten über 33 000 Kiewer Juden in der Schlucht von Babij Jar einen grausamen Tod gefunden. Nach dem Krieg ließen die sowjetischen Behörden die Schlucht zubauen, einen abgedämmten Teil nutzten nahegelegene Ziegeleien zur Entsorgung ihrer Pulpe. Am 13. März 1961 nun brach der Damm. In der Schlammlawine starben wahrscheinlich über tausend Menschen. Es sollte nicht das erste und nicht das letzte Mal sein, dass die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges sozusagen mehr Menschen zu sich in den Tod rissen: Als die Sowjetunion in den Sechzigerjahren in großem Stil Sümpfe trockenlegte, Wälder abholzte und Flüsse begradigte, kamen menschliche Überreste zum Vorschein, bei deren Bergung Minen, Blindgänger und Erdrutsche neue Opfer forderten. Vielen galt dies als Rache für das Vergessen.

Der 13. März war auch in anderer Hinsicht ein Schicksalstag für Babij Jar. An diesem Tag im Jahr 1945 hatte die ukrainische Partei- und Republikführung beschlossen, am Ort der Massenerschießungen ein Denkmal errichten zu lassen. Stalins drei Jahre später einsetzende antisemitische Kampagne vereitelte die Baupläne. Als der Moskauer Dichter Jewgenij Jewtuschenko kurz nach der Schlammlawine von 1961 Babij Jar besuchte, erschütterte ihn der Zustand des Ortes so sehr, dass er ein Gedicht schrieb. Die ersten Worte lauteten: "Es steht kein Denkmal über Babij Jar." Das Gedicht wurde in Dutzende Sprachen übersetzt, Dmitrij Schostakowitsch vertonte es.

Babij Jar wurde im In- und Ausland zu einem Begriff für das Verschweigen des Holocaust in der Sowjetunion, die Helden pries, aber keine Opfer anerkannte. Wenn schon am Ort der größten Vernichtungsaktion an Juden kein Denkmal stand, konnte es anderswo erst recht keine geben. Der Jerusalemer Historiker Arkadi Zeltser nennt diese Vorstellung in seiner bahnbrechende Studie "Unwelcome Memory" (Yad Vashem) das "Babij-Jar-Syndrom".

Jüdische Kriegsveteranen errichten im weißrussischen Minsk einen Obelisken

Doch dessen Logik verkennt die Funktionsweise des sowjetischen Systems. Den Metropolen - vor allem den Hauptstädten der einzelnen Sowjetrepubliken und den "Heldenstädten" - galt die besondere Aufmerksamkeit der Staats- und Parteiführung. Öffentliche Erinnerungszeichen unterlagen hier einer strikten Kontrolle, eine vielschichtige Bürokratie überprüfte sie auf Konformität mit dem sowjetischen Geschichtskanon und zeigte sich empfindlich gegenüber Subversion. Tatsächlich ist nur ein einziges Denkmal im Zentrum einer sowjetischen Großstadt bekannt, das offen an den Massenmord erinnerte: Im Jahr 1946 errichtete eine Gruppe jüdischer Kriegsveteranen in Minsk einen Obelisken in der "Grube" - dem Ort der Erschießung von 5000 Insassen des Minsker Gettos. Die Inschriften auf Jiddisch und Russisch sprechen explizit von jüdischen Opfern.

An der Peripherie war es anders, wie Zeltsers eindrucksvoll dokumentiert. In den Außenbezirken der Großstädte, vor allem aber in kleineren Orten und auf dem Land entstanden gleich nach der Befreiung oder Jahre später zahlreiche Denkmäler für die jüdischen Mordopfer. Zeltsers Statistik straft die Vorstellung Lügen, wonach der sowjetische Machtapparat eine totale Kontrolle über das Gedenken ausübte. Im ostbelarussischen Bezirk Mogiljow etwa hatten vor dem Krieg 42 Orte einen nennenswerten jüdischen Bevölkerungsanteil. In 38 von ihnen entstanden nach der Befreiung Denkmäler für die Opfer. Insgesamt sind solche Denkmäler für mindestens 733 Orte in der Sowjetunion dokumentiert, fast genau die Hälfte der von der Shoah betroffenen Gemeinden. Dieses Wort verwendeten die Erbauer ebenso wenig wie den Begriff Holocaust. Schon deshalb nicht, weil sie nicht an den Genozid als Ganzes erinnern wollten, sondern an Angehörige und Nachbarn. Diese waren in den meisten Fällen unweit ihres Wohnorts ermordet worden - nicht in Vernichtungslagern.

Einfache Holzkonstruktionen, Obelisken aus Beton, zuweilen aber auch ausgefallenere Anlagen entstanden direkt an den Tatorten, an Sammelgräbern oder auf jüdischen Friedhöfen. Dadurch wurde das Gedenken ortsspezifisch. Zudem waren in der Provinz die Wege kürzer. Man ließ Beziehungen spielen oder berief sich auf "Signale" von oben - formal war die Nennung jüdischer Opfer ja nie verboten.

In privaten und staatlichen Archiven fand Zeltser Einzahlungsbelege, Eingaben an die Obrigkeit und Bestellungen bei örtlichen oder Moskauer Bildhauern und Architekten. Die Überlebenden organisierten knappe Baumaterialien und stellten - vor allem gleich nach der Befreiung - gelegentlich auch in Eigenregie Denkmäler auf, die von den Behörden nachträglich genehmigt oder einfach ignoriert wurden.

Der Kreis der Beteiligten war überraschend groß. An der Bewahrung des Andenkens nahmen Zehntausende Juden teil. Neben den heimkehrenden Frontsoldaten und Evakuierten waren es Menschen, die sich nach dem Krieg anderswo in der Sowjetunion niederließen oder schon zuvor die traditionellen jüdischen Siedlungsgebiete verlassen hatten. Die Gruppen organisierten sich landsmannschaftlich, waren aber nicht sehr miteinander verbunden. Zeltser spricht dennoch mit Recht von so etwas wie zivilgesellschaftlichem Engagement. Dabei waren es jedoch fast ausschließlich Juden selbst, die sich für die Aufstellung von Denkmälern einsetzten. In den beiden deutschen Staaten lebten nach dem Holocaust kaum noch Juden, in Ländern wie Polen dezimierte die Emigration nach Israel und in den Westen die geschrumpften Gemeinden. Dafür konnten hier auch Nichtjuden den Bau von Denkmälern initiieren, die dann den Massenmord als Ganzes ins Bewusstsein rückten.

Viele sowjetische Juden sahen sich als sowjetische Patrioten, bedienten sich selbstverständlich der sowjetischen Symbolik.

In der Sowjetunion war das Gegenteil der Fall: Die Juden gegenüber anderen Opfern hervorzuheben, war tabu. Dafür hatten Hunderttausende in den Reihen der Roten Armee oder im Hinterland überlebt, und man konnte ihnen nur schwer verwehren, ihrer Familienangehörigen zu gedenken. Die älteren unter ihnen waren noch mit religiösen Bestattungs- und Gedenktraditionen vertraut - oder mit den Formen, in denen Juden im Russischen Reich Pogromopfer geehrt hatten. So finden sich auf einigen Denkmälern Inschriften in hebräischer Sprache mit Verweisen etwa auf das Buch Hiob. Verbreiteter waren Davidstern und Menora als jüdische Symbole.

In anderen Fällen wiesen zweisprachige Inschriften auf Jiddisch und der Landessprache auf die Identität der Opfer hin oder würdigten auf Russisch die namenlosen Sowjetbürger. Den Ortsansässigen war trotzdem klar, um wen es ging - ebenso den Angehörigen, die sich am Todestag - der yortseyt - und zunehmend auch an offiziellen Feiertagen zu Gedenkveranstaltungen an den Denkmälern trafen.

Die neutralen Inschriften waren ein Kompromiss, der die Errichtung der Denkmäler oft erst ermöglichte. Andererseits vermieden die Erbauer zuweilen bewusst Symbole des Judentums und ausgefallene Formen, um Vandalen und Behörden nicht zu provozieren. Schließlich waren aber auch die sowjetischen Juden Teil der Gesellschaft. Viele von ihnen sahen sich als Patrioten und bedienten sich ganz selbstverständlich einer sowjetischen Sprache und Symbolik. Die Massenmorde an ihren Angehörigen sahen sie als Teil des Angriffskriegs, zu dessen Scheitern viele von ihnen als Soldaten beigetragen hatten.

Jüdisches und sowjetisches Gedenken standen nicht zwangsläufig im Gegensatz zueinander - den regelmäßig aufkeimenden Antisemitismus sahen die meisten als Verirrung des sowjetischen Systems. In den Siebziger- und Achtzigerjahren entdeckte eine neue Generation selbstbewusster Juden in den Großstädten das Thema. Seit der Perestroika ersetzten sie und die im Ausland lebenden Nachfahren der Opfer viele der alten Denkmäler durch neue, die eher dem westlichen Kanon des Holocaust-Gedenkens entsprechen.

Der Autor ist Historiker und Soziologe und arbeitet am Einstein Forum in Potsdam.

© SZ vom 13.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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