"The Sopranos":Fast wie im richtigen Leben

James Gandolfini

James Gandolfini in der Rolle, die ihn berühmt gemacht hat: als Mafiaboss Tony Soprano.

(Foto: Anthony Neste/Getty)

Vor 20 Jahren wurde die erste Folge der "Sopranos" ausgestrahlt. Wie eine Mafiaserie die Zuschauer vor der Verblödung rettete und den Netflix-Alltag erfand, in dem wir heute leben.

Von David Steinitz

Um Hollywood auf den Kopf zu stellen, muss man wahrscheinlich erst mal lernen, Hollywood so richtig zu hassen.

Anfang der Neunziger saß der amerikanische Filmemacher David Chase im Flugzeug. Auf den Bildschirmen lief die Komödie "Pretty Woman" mit Julia Roberts - und Chase war entsetzt. Die Prostituierte ist ein Aschenputtel und der Freier ein Märchenprinz? "Alle lachten bei diesem Film", erzählte er über das Erlebnis. "Aber ich fand das weder witzig noch spannend, sondern dachte mir, wenn es das ist, was ihr wollt, kann ich mich auch gleich aus dem Flugzeug stürzen."

Chase hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahrzehnte als Schreibsklave fürs Fernsehen gearbeitet und bei Serien wie "Detektiv Rockford" künstlichen Figuren künstliche Dialoge auf ihre künstlichen Fitnessstudiokörper geschrieben. Die Diskrepanz zwischen der Realität der Menschen und der Zuckerwattewelt der Film- und TV-Studios klaffte seiner Meinung nach in keinem Land so krass auseinander wie in den USA. Dazu musste man nur mal fünf Minuten "Baywatch" und "Beverly Hills 90210" einschalten - oder eben "Pretty Woman".

Hätte es die "Sopranos" nicht gegeben, sähe unser Netflix-Alltag heute anders aus

Chase war damals schon Anfang fünfzig und rechnete nicht mehr damit, in seinem Job glücklich zu werden. Aber zu seinem eigenen Erstaunen fragte ihn kurz nach seinem "Pretty Woman"-Erlebnis ein Produzent, ob er sich nicht eine Serie für ihn ausdenken wolle. Und zwar eine Serie, die anders sein sollte als das, was man sonst so zu sehen bekäme. Da war für Chase klar: Wenn es jemals Zeit war, die schönheitsoperierten Köpfe der alten Filmindustrie unter die Guillotine zu legen, dann jetzt. Als vor zwanzig Jahren - am 10. Januar 1999 - die erste Folge seiner Mafiaserie "The Sopranos" beim US-Sender HBO ausgestrahlt wurde, konnte natürlich trotzdem noch niemand ahnen, was für eine Kulturrevolution er damit anzetteln sollte. Zum Beispiel, weil man im Serienzeitalter, das er losgetreten hat, sein Sozialleben dem Binge-Watching unterordnet und lieber noch eine Folge soundso anklickt, anstatt mit Freunden ein Bier trinken zu gehen oder die Küche zu putzen. Wenn man zusätzlich zum täglichen Serienmarathon der Partnerin verkündet, für eine kleine Recherche "noch mal kurz" in die "Sopranos" hineinzuschauen, fragt man sich zarte 86 Folgen und einige leer gefressene Plätzchendosen später doch erschöpft, ob es wirklich gesund ist, wie viel Zeit man mittlerweile in Netflix & Co investiert.

Der etwas blasse, luxusverwahrloste Serienjunkie, der dringend mal wieder joggen gehen sollte, ist auf jeden Fall ein Produkt jenes süchtig machenden Serienstoffes, den David Chase mit den "Sopranos" erstmals in völlig ungestreckter Form unter die Leute brachte. Eine Erfindung, die im Ranking der großen amerikanischen Innovationen mindestens auf der Ebene des Big Mac angesiedelt werden muss - nur dass gute Serien meist nahrhafter sind.

Die Tragikomödie des Mafiabosses Tony Soprano, der von intriganten Gangstern, seinen pubertierenden Kindern und seiner hysterischen Mutter mit Panikattacken zur Psychiaterin getrieben wird, kam damals schon gut an. Aber erst mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten lässt sich rückblickend sagen: Hätte Chase nicht den Mut gehabt, diese Serie zu drehen, würde unsere Unterhaltungsindustrie und unser Netflix-Alltag heute anders aussehen. Der Erfolg von Serienspektakeln wie "Game of Thrones" und "Babylon Berlin", aber auch der Erfolg von Streamingdiensten wie Netflix und Amazon Prime wäre ohne die Pionierarbeit der "Sopranos" undenkbar.

Und diese Pionierarbeit fing schon im Vorspann der Serie an. Da sieht man den Paten Tony Soprano in seinem Auto durch den Lincoln Tunnel fahren, New York verschwindet im Rückspiegel, vor ihm liegen die Suburbs von New Jersey. Das galt in der TV-Welt des Jahres 1999 als irre Provokation, weil es die falsche Richtung war, in die der Mann da fuhr. Denn die meisten TV-Produzenten waren der Meinung, dass der durchschnittliche Zuschauertrottel ja sowieso schon in der Vorstadt lebte. Weshalb man ihm abends im Fernsehen etwas zeigen müsse, wohin er es wegen all der Ratenkredite für Autos und Stereoanlagen, die man ihm in den Werbepausen verkaufte, niemals selbst schaffen würde: in die glitzernden Hochhausschluchten von Manhattan.

Statt strahlender Helden gab es einen Haufen kaputter Typen, die an Depressionen litten

Stattdessen das dreckige New Jersey als Schauplatz zu nehmen, mit seinen grauen Malls und Stripclubs entlang der Autobahn, das klang nach künstlerischem wie kommerziellem Selbstmord für eine Serie.

Genauso wie der Mann, der da im Vorspann hinterm Steuer saß und an seiner Zigarre zog. Tony Soprano war ein übergewichtiger Kerl mit Halbglatze, der von einem Typen gespielt wurde, von dem zuvor kaum ein Zuschauer gehört hatte. In der Logik des alten TV-Systems hätte es für die Mafioso-Hauptrolle nicht den unbekannten, schwabbeligen James Gandolfini gebraucht, sondern eine italo-amerikanische Version von George Clooney. Aber David Chase und sein Team waren auf einem künstlerischen Amoklauf. Auch über den Vorspann hinaus wirkte die Pilotfolge vom Januar 1999, als ob die Filmemacher alle Fernsehratgeber verschlungen hätten, um dann genau das Gegenteil zu tun.

Das alte TV-System verlangte Skripts, in denen die Figuren ankündigten, was sie gleich tun würden, es dann auch taten, und hinterher noch mal erklärten, was genau sie getan hatten. Sprich: Die Geschichten wurden der Dramaturgie der Werbepausen angepasst, und falls es jemand nicht rechtzeitig vom Kühlschrank zurück zur Couch schaffte, wurde ihm trotzdem noch mal erklärt, was passiert war. Zudem erzählte fast jede Folge eine in sich geschlossene Geschichte mit leicht verdaulicher Kalenderspruchmoral, damit die Zuschauer beruhigt ins Bett gehen und von den Produkten aus den Werbeunterbrechungen träumen konnten. Die "Sopranos" waren in dieser Logik formal wie inhaltlich eine Zumutung. Alle Folgen waren unterschiedlich lang, mal 45 Minuten, mal eine ganze Stunde, je nachdem, was David Chase gerade erzählen wollte. Auch gab es zwischen den einzelnen Folgen und später den insgesamt sechs Staffeln Zeitsprünge, in denen die Figuren ihr Leben weiterlebten. Es passierten Streits und Liebesgeschichten und Todesfälle, die dem Zuschauer nicht ausbuchstabiert wurden, sondern die er sich selbst zusammenreimen musste.

Statt strahlender Helden gab es einen Haufen kaputter Typen, die an Depressionen litten, zu viel Alkohol tranken und nachts nicht einschlafen konnten. Die Figuren handelten nicht mehr wie klassische Fernsehfiguren, die immer sagen, was sie auch meinen, sondern wie echte Menschen, die natürlich fast nie sagen, was sie eigentlich meinen - weshalb das menschliche Miteinander ja so kompliziert ist.

Der Clou an der Sache war, dass die Serie als Mafiageschichte verkauft wurde, der Krimi-Aspekt aber nur ein Trojanisches Pferd für normalmenschliche Probleme war. In Wahrheit ging es weniger um den Mafiaboss Tony Soprano als um einen Mann, der in der Midlife-Crisis steckt und der mit seinem Job, seiner Position als Ehemann und Vater und seinem Bild von Männlichkeit hadert. Die "Sopranos" sind das Porträt eines Menschen und letztlich einer ganzen Gesellschaft in der Identitätskrise. In den ersten drei Staffeln sieht man im Vorspann noch die Twin Towers im Rückspiegel von Tonys Auto. Ab der vierten sind sie verschwunden, und es macht sich die Paranoia eines neuen politischen Systems in dieser Geschichte breit. Einer Geschichte, die noch unter dem Gute-Laune-Präsidenten Bill Clinton in den letzten Ausläufern der unterbeschäftigten Neunzigerjahre begann, und die 2007 endete, nachdem George W. Bush und Dick Cheney die Welt nach den Vorstellungen der amerikanischen Ölindustrie umgebaut hatten.

Was Schriftsteller wie J. D. Salinger, John Steinbeck und Richard Yates das 20. Jahrhundert hindurch in Romanen erledigt hatten - die Psychoanalyse eines Landes, dessen amerikanischer Traum zum Albtraum mutierte - packte David Chase in eine neue Form: die Fernsehserie als erste große Erzählung des anbrechenden 21. Jahrhunderts.

Im Ergebnis geschah durch die "Sopranos" mit den degenerierten Couchwesen vor den Fernsehgeräten etwas Ungeheuerliches: Die Zuschauer durften wieder das Denken anfangen.

Wie jede Revolution hatte auch diese ihren Preis. Für den Dreh einer Serienfolge wurden Ende der Neunzigerjahre selten mehr als sieben, acht Tage kalkuliert, und die Budgets lagen meist im fünfstelligen Bereich. Aber die Dreharbeiten einer einzelnen "Sopranos"-Folge dauerten manchmal an die 20 Tage und kosteten bis zu 10 Millionen Dollar pro Episode.

Inzwischen überschlagen sich die Macher mit absurden dramaturgischen Volten

Diese Kostenexplosion lag ein klitzekleines bisschen daran, dass Chase nicht nur seinen Serienfiguren, sondern auch seiner Crew üppige Gelage zugestand; zum Team-Lunch gab es nicht selten Hummerschwänze und Steaks. Vor allem aber lag es daran, dass Chase darauf bestand, wirklich in New Jersey zu drehen und nicht in Filmstudiokulissen in Hollywood, weil das ganze Unternehmen sonst schon wieder nach Pappmaché-Welt ausgesehen hätte.

Ob sich dieser Aufwand wirklich lohnen würde, da war er sich zu Beginn aber nicht mal selbst sicher. Während des Drehs der Pilotfolge erkundigte Chase sich, ob im Schreibteam von "Akte X" vielleicht noch ein Plätzchen für ihn frei sei, falls er arbeitslos werden würde. Auch beim Sender HBO bekamen die Chefs kurz vor der Erstausstrahlung Panik, ob die Zuschauer wirklich einem Mafiaboss bei der Verhaltenstherapie zuschauen würden. Sie wollten sogar noch verhindern, dass die Serie "The Sopranos" heißt, weil sie Angst hatten, die Zuschauer könnten denken, es ginge um Opernsängerinnen.

Diese Anfangsnervosität ist mittlerweile nur noch eine Fußnote der Filmgeschichte. Der Erfolg stellte sich bald ein, und der Einfluss der Serie ging schnell über ihre insgesamt 86 Episoden, die bis 2007 ausgestrahlt wurden, hinaus. Denn die Show fungierte auch als eine Art Bootcamp für eine goldene Serienmachergeneration. Unter der Schirmherrschaft von David Chase lernten diverse Künstler ihr Handwerk. Zum Beispiel der Autor Matthew Weiner, der kurz darauf die "Mad Men" erfand, und sein Kollege Terence Winter, der sich "Boardwalk Empire" ausdachte; oder Alan Taylor, Timothy Van Patten und Jack Bender, die ins Regieteam von "Game of Thrones" wechselten.

Dass diese und andere erfolgreiche Folgeserien überhaupt produziert wurden, lag ebenfalls an den "Sopranos". Der Sender HBO hatte sich durch die Serie ein neues Image zugelegt und viel Geld verdient. Dadurch erkannte auch die Konkurrenz das Potenzial eines hochpreisigen Serienmarkts, der ein paar Jahre zuvor noch undenkbar gewesen war, weil es beim Fernsehen immer ums Sparen gegangen war.

Jeder Sender und später auch jeder Streamingdienst wollte ein eigenes Serienepos, das man nur mit ihm identifizierte. AMC startete "Breaking Bad", Netflix produzierte "House of Cards", Showtime investierte in "Homeland". Und das war nur die erste kleine Welle des Serien-Tsunamis, der heute auf den Endgeräten tobt, weil all die HD-Fernseher, Tablets und Smartphones, die seit den "Sopranos" erfunden wurden, ja auch mit irgendetwas befüllt werden müssen.

Diese Entwicklung ist für die Zuschauer einerseits ein Segen, weil die Auswahl heute so groß ist wie nie zuvor. Andererseits ist die Sucht nach wilden Serienstoffen, die die "Sopranos" losgetreten haben, auch ein Fluch. Weil es aufgrund der Serieninflation immer schwerer wird, mit originellen Inhalten hervorzustechen, überschlagen die Macher sich mit haarsträubenden dramaturgischen Volten. Die Anzahl an spektakulären Stunts und Sexszenen, die früher noch eine ganze Staffel "Sopranos" gefüllt hätten, reicht heute gerade noch so für eine Folge "Game of Thrones".

Der Wow-Effekt der großen Serien der letzten Jahre entstand aber vor allem dadurch, dass die Erfinder sich die Zeit nahmen, ihre Geschichten langsam anzufangen, bis sie sich zu einem dramaturgischen Sturm verdichteten. Dieses epische Erzählgefühl geht leider immer öfter zugunsten schneller Knalleffekte verloren, weil die Macher nervös um die Aufmerksamkeit des überbeschäftigten Publikums buhlen. Dieses künstlerische Hyperventilieren lässt sich von "Maniac" bis "Dogs of Berlin" derzeit bei vielen Serien beobachten. Auch logistisch stößt man als Zuschauer an Kapazitätsgrenzen. Weil man arbeiten muss, um sein Netflix-Abo zu bezahlen, und weil man zumindest ein bisschen schlafen muss, um arbeiten zu können, bleibt gar nicht mehr genug Zeit, als dass man nur ansatzweise all die neuen Serien anschauen könnte, die Woche für Woche starten.

Weshalb es, zwanzig Jahre nach den "Sopranos", fast schon wieder Zeit für eine neue Revolution wäre - wenigstens für eine kleine. David Chase zumindest, mittlerweile 73 Jahre alt, steht bereit. Er will in diesem Jahr "The Many Saints of Newark" produzieren, die Vorgeschichte der "Sopranos", ein Gangsterdrama während der Rassenunruhen der Sechziger. Aber nicht als ausufernde Serie. Sondern im guten alten Spielfilmformat.

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