"Sibiriens vergessene Klaviere":Wie kommt der Stürzwage-Flügel nach Chabarowsk?

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Musikgeschichte, Landesgeschichte und individuelle Biografien: ein Bechstein-Piano in Sibirien. (Foto: Michael Turek)

Wenn man sich auf die Suche begibt, findet man in der sibirischen Provinz erstaunlich viele erstklassige Klaviere. Die Reisejournalistin Sophy Roberts hat ihre Geschichten recherchiert.

Von Karl Schlögel

Auf den ersten Blick hat es, wie die Autorin selbst anmerkt, etwas Verrücktes, in Sibirien, dem weiten Raum zwischen Ural und Pazifik, nach Klavieren zu suchen, noch dazu wenn die Autorin zugibt, dass sie in Gegenden und Orte kam, von deren Existenz sie zuvor nicht einmal gewusst hatte.

Dass man das "Jahrhundert der Extreme" auch an Klavieren und Flügeln ablesen kann, wurde unlängst in einer Moskauer Ausstellung des "Asyls der Klaviere" gezeigt, mit mehr als hundert Klavieren in unterschiedlichstem Zustand: von gut erhalten, weil gepflegt und in Kulturhäusern oder Konservatorien genutzt, bis hin zu wahren Wracks, niedergebrochen, zerkratzt, mit herausgerissenen Saiten, unschuldige Opfer des Bürgerkriegs, in dem man Rache nahm an vermeintlichen Statussymbolen einer verhassten Elite.

Auslösendes Moment für ihre Klaviersuche war die Begegnung mit einer in Europa ausgebildeten mongolischen Pianistin, der sie jenseits der Grenze in Russland einen klassischen Flügel zu besorgen versprach, was am Ende auch gelang und nicht nur ein erzählerischer Trick ist: Einer der entdeckten Flügel - ein Grotrian-Steinweg - wird schließlich in Matratzen und Schaumstoff verpackt aus Nowosibirsk über 3200 Kilometer in die Mongolei geschafft.

Das vorrevolutionäre Russland hat bedeutende Komponisten hervorgebracht

Zwischen diesem exotisch anmutenden Anfang und Ende bekommen wir ein Buch zu lesen, in dem Musikgeschichte, Landesgeschichte und individuelle Biografien zusammenkommen, wie sie nur im 20. Jahrhundert in Russland denkbar sind. Wie es sich für eine wirkliche Entdeckungsreise gehört, ist sie Suchbewegung, die das Risiko nicht scheut, möglicherweise im Abseits zu landen. Aber gerade im Abseits, das von der großen Geschichte vergessen wird, spürt sie ihre Gegenstände, ihr Personal, ihre Geschichten auf.

Das vorrevolutionäre Russland hat nicht nur bedeutende Komponisten und Interpreten hervorgebracht - Anton Rubinstein, Modest Mussorgski, Alexander Skrjabin, Sergej Rachmaninow -, sondern auch eine bedeutende Klavierbauindustrie, zunächst vorwiegend von ausländischen Klavierbauunternehmen mit Sitz in Petersburg und Moskau. Es gab eine wohlhabende Schicht, die es sich leisten konnte, die importierten oder im Land gebauten Marken zu erwerben: Becker, Schröder, Bechstein, Erard und andere.

Mit der Revolution kam diese Tradition zum Abbruch, die Firmen wurden verstaatlicht, Flügel aus den Adelssitzen wurden, soweit nicht von Kommissionen beschlagnahmt und für Konservatorien und Musikschulen gerettet, zu Tausenden beschädigt oder zerstört. Mit der Verstaatlichung nach 1917 - aus Becker wurde Roter Oktober - und einer auf breite Grundlage gestellten Musikausbildung und Talentförderung entstand eine eigene sowjetische Musikkultur und das sowjetische Pianistenwunder - etwa mit Wladimir Sofronitzki, Emil Gilels, Swjatoslaw Richter. Das Ende der UdSSR geht einher mit der teilweisen Erosion der musikalischen Infrastruktur in Schulen und Kulturhäusern, aber auch mit der Wiederentdeckung der vorrevolutionären Klavierbaukultur.

Sibirische Kaufleute ließen sich Flügel aus der Hauptstadt kommen

Sibirien ist das Feld für die Erkundungsreise von Sophy Roberts: Das sind Tobolsk und Jekaterinburg, wohin mit der Zarenfamilie, die dort im Juli 1918 ermordet wurde, auch ein Becker-Flügel transportiert worden war. Das ist Nowosibirsk, wohin im Großen Vaterländischen Krieg Kunstschätze aus Leningrad und Moskau evakuiert wurden, darunter das Tafelklavier Katharinas der Großen aus dem Jahre 1774, das im Dezember 1941 bei 55 Grad minus ausgeladen wurde und heute wieder in Pawlowsk zu sehen ist.

Das ist Akademgorodok, wohin die in Nizza geborene Veronique Lautard einen kostbaren Mühlbach hatte retten können. Das ist Irkutsk, das "Paris Sibiriens", wo die Frauen der aus der Hauptstadt verbannten Dekabristen Salons eingerichtet hatten, die auch musikgeschichtlich bedeutsam wurden. Das ist die Stadt Kjachta, deren Kaufleute, durch den Teehandel zu Reichtum gekommen, sich Flügel aus der Hauptstadt hatten nachkommen lassen.

Gewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Lebenswegen: Aufnahme aus Sibirien. (Foto: Michael Turek)

Das ist - schon jenseits der russisch-chinesischen Grenze - die Stadt Harbin, nach dem Bürgerkrieg mit Theatern, Verlagen und Clubs Zentrum der weißen Emigration, wo ein Oleg Lundstrem, der kommende Pionier des sowjetischen Jazz, sich inspirieren lassen konnte.

In Chabarowsk tauchte in den 1990er-Jahren ein kostbarer Flügel auf, der von einem Oligarchen mit philanthropischen Neigungen restauriert und für Konzerte zugänglich gemacht wurde. Und das ist Magadan, die einstige Hauptstadt des Gulagkomplexes an der Kolyma, wo heute das Roter-Oktober-Piano besichtigt werden kann, das dem Sänger Wadim, der hierher verbannt worden war, gehört hatte.

Gewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Lebenswegen

Über ihren Zugang zur dieser Kulturgeschichte sagt Sophy Roberts: "Wenn ich dem Weg eines Objekts folgte, würde ich dem Verständnis des Ortes näher kommen. Ich würde lernen, dass ein Ding nie nur ein Ding ist - dass jedes Klavier anders singt, wegen der Menschen, die darauf gespielt und sein hölzernes Gehäuse poliert haben." Es geht ihr also nicht bloß um ein Instrument, sondern um die mit dem Objekt verbundene Geschichte der Menschen. Sie tastet sich vor, sie fragt sich durch, sie muss Spuren folgen.

Sie trifft auf gewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Lebenswegen, auf ungewöhnliche Menschen, die sich durchgeschlagen haben, auf Exzentriker, die eigensinnig an ihren Träumen festgehalten haben wie der singende Priester, der sie in Tobolsk zu einem Klavier führt, der Afghanistan-Veteran oder Leonid Kaloschin, der in seinem früheren Leben Navigator bei Aeroflot war, nun aber als Klavierstimmer und Rockmusiker Klaviere aufspürte, um diese weiterzugeben an Kindergärten und Schulen.

Für ihre Recherchen nutzte Roberts alle nur denkbaren Quellen: Zollpapiere im Marinearchiv in Sankt-Petersburg zu einem Clavichord, das irgendwann in Irkutsk aufgetaucht war. Sie machte Restaurateure, vor allem aber Klavierstimmer ausfindig, die ihr mit ihren in lebenslanger Erfahrung erworbenen Kenntnissen weiterhelfen.

Ein Stürzwage-Flügel kam über Sankt Petersburg nach Chabarowsk

Die Autorin gab Inserate auf oder lancierte Anfragen über Fernsehstationen. In vielen Fällen konnte sie über die Seriennummern die Identität der von ihr aufgefundenen Becker-, Ibach-, Steinweg-, oder Bechstein-Flügel klären. Zum Bechstein-Flügel mit der Seriennummer 16962 heißt es: "Das Klavier war in sämtliche Teile zerlegt, der Resonanzboden hingestreckt wie ein alter Trinker, der auf den Tod wartet."

Über das kostbare Exemplar eines Stürzwage-Flügels aus dem 19. Jahrhundert, der auf dem Schlitten von Sankt-Petersburg nach Chabarowsk transportiert worden war, heißt es: "Es war ein Stutzflügel mit den originalen Saiten und einem flacheren Anschlag als gewöhnlich. Die Mechanik war vom leichteren Wiener Typus, anders als der schwerere englische Typ. Ihr fehlte der raffinierte kreuzsaitige Bezug, welcher die Klaviertechnologie in den 1850er revolutionierte und wodurch Klaviere eine stärkere Resonanz erhielten".

Über einen Grotrian-Steinweg aus den 1930er-Jahren mit der Seriennummer 632163 sagten die Klavierstimmer in Nowosibirsk: "Ein deutsches Klavier mit zartem Klang. Aber es hat auch eine Menge miterlebt." Tatsächlich trug die tiefste Taste das Stimmdatum vom 20. Oktober 1944 und den Namen des Klavierstimmers, Carl W. Aug. aus Allenstein im ehemaligen Ostpreußen.

"Was dieses Land erlitten hat, ist schwer zu ermessen"

Das Buch zeichnet die "zivilisatorische Mission" russischer Kultur östlich des Urals ebenso nach wie die Barbarei der bis zum Pazifik sich erstreckenden Lagerwelt. Es berichtet von den Begegnungen mit den Nachkommen der verbannten polnischen Aufständischen von 1863 und den deportierten Kulaken der 1930er-Jahre, von den Erfahrungen der Museumsleute in Irkutsk im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit, vom Stolz der Ölarbeiter in Tjumen, immer zuhörend, einfühlend und behutsam, wie von "Nina, der schon blinden, krummen, brillanten alten Frau", die Sophy Roberts eine "Enzyklopädie Russlands im 20. Jahrhundert" nennt.

Roberts hat nicht nur ein fast detektivisches Buch über die russische Musik- und Klavierkultur Russlands geschrieben, sondern uns in eine Weltregion geführt, die noch immer sehr an der Peripherie unserer Aufmerksamkeit liegt. "Was dieses Land erlitten hat, ist schwer zu ermessen, und das alles im blutigen 20. Jahrhundert."

Sie hat also nicht, wie sie selbst ironisch anmerkt, einen "weiteren Beitrag zu den Annalen der Reisen ins sibirische Absurdistan" geschrieben, sondern ein außerordentlich kenntnisreiches und sehr bewegendes Buch - nicht nur über Klaviere.

Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauser. Zsolnay Verlag, Wien 2020. 400 Seiten, 26 Euro.

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