Sonderausgabe zum Jahrestag des Attentats:"Charlie Hebdo": Die Tabulosigkeit fällt schwerer

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Das Magazin sei "der zur Eleganz erhobene schlechte Geschmack", so Frankreichs Kulturministerin Fleur Pellerin in ihrem Kommentar für die Gedenkausgabe. Es ist als Lob gemeint. (Foto: REUTERS)

Kampfentschlossenheit und Galgenhumor - der Ton kommt einem bekannt vor. Aber bei "Charlie Hebdo" hat sich seit dem Anschlag viel verändert. Ein Blick in die Sonderausgabe zum Jahrestag des Attentats.

Von Joseph Hanimann

Nachdenklichkeit und stilles Gedenken gehören auch an diesem ersten Jahrestag des Attentats nicht zum Stil von Charlie Hebdo. In der Sonderausgabe mit dem fliehenden Killer-Gott auf der Titelseite, die schon vor dem Erscheinungstag rund um die Welt ging, sind aber dennoch neben der martialischen Leitkolumne des Herausgebers "Riss" gegen die "fanatischen Knallköpfe" und ihre Mitläufer aus den Medien auch überraschende Nebentöne zu hören.

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Während seines monatelangen Krankenhausaufenthalts habe er gelernt, schreibt das beim Attentat schwer verletzte Redaktionsmitglied Philippe Lançon, dass das Gedenken dem Denken nicht schadet. Und tatsächlich fällt in den Zeichnungen dieser Sonderausgabe wiederholt eine Figur auf, die ihre Fatwa auch seit Jahren schon überlebt hat: Der Schriftsteller Salman Rushdie ist weltlicher Schutzpatron des Satireblatts geworden.

Hinter dem zwischen Kampfentschlossenheit, Galgenhumor und den obligaten Zoten wechselnden Ton der Gedenknummer ist indessen nicht zu überhören, dass bei Charlie im Lauf dieses Jahres einiges anders geworden ist. Der mit der plötzlichen Berühmtheit und dem großen Geld im Frühjahr ausgebrochene Konflikt in der Redaktion über die Führung der Zeitung hat sich zwar beruhigt. Charlie Hebdo ist ein Unternehmen mit Solidaritätsstatus geworden und dadurch verpflichtet, 70 Prozent des Gewinns in den Betrieb zu reinvestieren. Die beiden Alleinaktionäre "Riss" und Éric Portheault, der Geschäftsführer, haben überdies beschlossen, auch den Rest auf einem Spezialkonto zu hinterlegen. Die von manchen geforderte Reform des Führungsmodells durch Geschäftsbeteiligung der Redakteure ist aber nicht erfolgt. Die Austritte, etwa des Zeichners Luz im letzten Herbst, vollziehen sich diskret ohne Türschlagen, meistens auch mehr wegen der auf die Stimmung drückenden Last der Ereignisse als wegen des Führungsstreits.

Streng bewacht

Das tabulose Spaßmachen, Spotten und Herumalbern, das zum Image von Charlie gehört und in den Mittwochs-Konferenzen geradezu zelebriert wird, ist nach dem Geschehenen schwer durchzuhalten. Es passte in die Epoche der Sechziger- und Siebzigerjahre, in denen Charlie Hebdo und dessen Vorgänger Hara-Kiri entstanden. Die daraus hervorgegangenen Karikatur-Genies Cavanna, Cabu, Reiser, Topor, Wolinski, Willem hätten nur gedeihen können, indem sie nichts ernst nahmen, schreibt "Riss" in seiner Kolumne.

Heute sitzt die Charlie-Redaktion, die im Sommer ihre Notunterkunft bei der Zeitung Libération verließ, in einem streng bewachten Gebäude, das die Stadt Paris ihr zur Verfügung gestellt hat. Neben dem Polizeischutz wurde privates Bewachungspersonal engagiert, Zusatzdienste wie eine Pressestelle wurden geschaffen. Das heitere Chaos von früher musste den neuen Umständen angepasst werden. Die Verkaufsauflagen haben sich nach den Rekorden vom vergangenen Frühjahr auf einem Mittelwert von 100 000 stabilisiert, hinzu kommen 200 000 Abonnenten.

Mag auch die Spaßfreude zurückkehren, liegt doch ein Hauch von Normalität über der Redaktionsrunde, und manche Mitglieder lassen sich seltener blicken. Das Dutzend Stühle um den Redaktionstisch reicht bestens aus für die Sitzungen. Vor allem an Zeichnern mangelt es dringend. Für die Verbliebenen ist es jede Woche ein Marathon, das Blatt zu füllen. "Unsere große Herausforderung ist es, neue Zeichner zu finden, der Mangel ist schreiend", gibt der Geschäftsführer Portheault zu.

Dass das Blatt auch ohne das Trauma von der Zeitenwende erfasst worden wäre, zeigt eine jüngst aufgekommene Konfrontation der Erinnerungen. Der Journalist Philippe Val, der Charlie Hebdo im Jahr 1992 nach zehnjähriger, finanzbedingter Pause wieder ins Leben gerufen hatte, publizierte im vergangenen November sein Erinnerungsbuch "C'était Charlie". Er erzählt darin, wie aus dem Spaßklub der ursprünglichen Gründungsbande, insbesondere Cavanna und Georges Bernier alias "Prof Choron", ein Satire-Team mit klaren Positionen und weltpolitischer Vision geworden sei.

Dem widersprechen andere wie der Investigationsjournalist Denis Robert, der zwar nie dazugehört hatte, manchen Charlie-Leuten aber nahestand. Demnach habe diese Rechthaberei-Satire, die das Spotten in den Dienst der "richtigen" Sache nehme, gegen Religion oder sonstigen Aberglauben, nichts mehr mit der Frechheit des Zweifelns aus dem ursprünglichen Charlie zu tun.

Widerstandsfähigkeit des Lachens à la française

Zwischen diesen beiden Satire-Auffassungen zögert ein Land, das sich anschickt, am kommenden Sonntag auf der Place de la République in Paris der Attentate vom Januar und vom November zu gedenken. Charlie sei "die zur Tugend erklärte Frechheit, der zur Eleganz erhobene schlechte Geschmack", schreibt die Kulturministerin Fleur Pellerin in ihrem Gastkommentar für die Charlie-Sonderausgabe: Und sie möchte beides nicht missen.

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Auch das Wochenmagazin Marianne verkündet in seiner jüngsten Ausgabe auf hundert Seiten: Lachen, sich lustig machen, provozieren - "C'est la France". Vom Dichter François Villon bis Genet und Houellebecq, von Courbets Bild "L'Origine du monde" bis Anish Kapoors umstrittener Installation "Dirty Corner" unlängst im Park von Versailles, von Serge Gainsbourgs "Marseillaise" bis zu den Werbeplakaten von Perrier und Benetton werden da fünfhundert Jahre Geschichte aufgeboten, um die Widerstandsfähigkeit des Lachens à la française zu bezeugen.

Selbst der politisch und sozial aufgeladene Prinzipienstreit für oder gegen "Je suis Charlie", der nach Emmanuel Todds Buch "Qui est Charlie?" aufflammte, hat sich einstweilen gelegt. Dass über alles frei geschrieben, gezeichnet und gelacht werden dürfe, ist bei Befürwortern wie Gegnern nun angekommen. Die "laïcité" wird in der neuen Ausgabe als "schöne Schwiegertochter" der Nation gefeiert, "die sich nicht steinigen lässt".

Entsprechend zurückhaltend sind die Reaktionen auf den davonlaufenden Gottvater mit den blutverschmierten Händen auf dem Titelblatt. Nach anfänglichen Einwänden aus kirchlichen Kreisen wurde es schnell wieder still. Denn auch dort hat man gelernt: Lachen und Schweigen sind einander nicht feind.

© SZ vom 07.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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