Süddeutsche Zeitung

Sommerhaus-Serie:17 Jahre lang wachträumen

Jean Cocteau war Dichter und Schriftsteller, Maler und Filmautor, Kunstsammler und Tausendsassa. Und Pariser durch und durch. Aber erst auf seinem Landsitz gestattete er sich ein efeuüberwuchertes Glück.

Von Joseph Hanimann

Allzu weit von Paris entfernt sollte es denn doch nicht liegen. Jean Cocteau, der Dichter, Schriftsteller, Maler, Filmautor, Kunstsammler, Ästhet und Tausendsassa, wollte stets das eine - und zugleich das andere nicht lassen. In seinem Landhaus finde er "die Erinnerung an die alten Landschaften, in denen ich von Paris träumte und die ich in Paris dann wieder als Fluchtziel erträumte", notierte er. Milly-la-Forêt, eine knappe Autostunde von der Hauptstadt entfernt, war ideal: Am Rand des ehemaligen Königswalds Fontainebleau und im Süden der sanft gewellten Landschaft der Hauptstadtregion Île-de-France gelegen, unweit von Barbizon, wo die Maler Millet, Daubigny, Théodore Rousseau um 1850 die Landschaftsmalerei im Freien erfanden, döst das Städtchen mit den niedrigen Häusern und verwunschenen Gärten noch heute vor sich hin, als wäre jeder Tag ein Sonn-, Feier- oder mindestens ein Urlaubstag. Wer ohne Auto nach Milly-la-Forêt kommt, muss vom Bahnhof Maisse aus die letzten sieben Kilometer im Taxi oder zu Fuß zurücklegen. Cocteau wählte sich einen ziemlich abgelegenen Ort.

Auf dem Hauptplatz des Orts steht die Markthalle, ein ziemlich imposanter Holzbau aus dem 15. Jahrhundert. Von dort führt die heutige Rue Jean Cocteau an gewundenen Steinmauern entlang in eine Sackgasse. Dann: ein Tor mit zwei runden Erkern darüber und über dem Eingang eine Tafel. Hier habe Jean Cocteau 17 Jahre lang gelebt, an diesem Ort sei er im Jahr 1963 auch gestorben, heißt es. Das ist etwas ganz anderes als die Spelunke am Palais-Royal, Cocteaus Pariser Stadtwohnung.

Gekauft hatte er das Haus im Jahr 1947. "Und hier sitze ich nun in der Stille dieser Landschaft, dieses Hauses, das mich liebt, das ich allein bewohne, nach einer langen, langen Zeit des Wartens", heißt es im Vorwort zum Buch "Die Schwierigkeit zu sein".

Er war damals 58 Jahre alt und in der Pariser Literaturszene eine bekannte Figur. Sein Stück "Parade" - gemeinsam mit Picasso verfasst, von Erik Satie komponiert, von Djagilews Russischem Ballett uraufgeführt - war 1917 ein Ereignis gewesen. Sein Buch "Potomak" war ein Erfolg. Ein halbes Dutzend Gedichtsammlungen lagen vor, die Theaterstücke wurden gespielt. Cocteaus Film "Das Blut des Dichters" lief im Kino, der Film "Die Schöne und das Biest" kam im zweiten Nachkriegsjahr heraus.

Im Mittelpunkt der Pariser Szene aber stand Cocteau nicht. Während der Besatzung hatte sich der politisch eher Desinteressierte mit den Deutschen mehr oder weniger arrangiert und sich gern mit dem Bildhauer Arno Breker sehen lassen. Zudem vollzog sich im literarischen Paris nach Kriegsende ein Generationswechsel. Im Mittelpunkt standen nun Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Simone de Beauvoir und das Milieu von Saint-Germain-des-Prés. Das 1947 in Milly-la-Forêt abgeschlossene Buch "La difficulté d'être" war eine Lebensbilanz, in der Cocteau witzig-melancholisch mit sich selbst abrechnet. Es beginnt mit den Worten: "Ich gebe zu: Ich habe zu viel schon Gesagtes und zu wenig noch Ungesagtes gesagt."

Herrschte deshalb in Milly-la-Forêt eine Atmosphäre von Grübelei und Trübsinn? Keineswegs. Direkt gegenüber dem alten Schloss von Milly-la-Forêt mit der efeuüberwachsenen Steinmauer gelegen, nur durch einen Wassergraben getrennt, ist das Schriftstellerhaus mit seinem Garten eine Insel ländlichen Glücks. Ein Rosenstrauch rankt sich um einen alten Birnbaum. Zwischen den Blumenbeeten stehen Statuen und sonstige Requisiten aus Cocteaus Filmen. Vom Garten aus hat man einen Blick auf die Flachziegeldächer des Städtchens und die alte Kirche. Durch ein Tor gelangt man auf einer Brücke über den Wassergraben direkt in den Wald.

Andere Liebhaber kamen und gingen. Doudou aber war einfach immer da

So allein, wie er in seinem Buch schrieb, war Cocteau auch gar nicht. Er empfing Freunde, posierte für Verehrer, alberte mit jungen Liebhabern und Besuchern. Und vor allem lebte er dort die ganzen Jahre in einer wundersamen Beziehung mit seinem jungen Lebenspartner Édouard Dermit, Kosename: "Doudou". Der Franzose hatte den zweiundzwanzigjährigen Jugoslawen, einen Minenarbeiter aus Lothringen, 1947 kennengelernt. "Das ist nun dein Zuhause, mach es dir bequem", sagte er zu dem jungen Mann, der fortan den Garten bestellte, ans Telefon ging, im Auto die Leute herumkutschierte, die nötigen Drogen besorgte und sich vor allem stets aufs Neue wunderte, was ihm da widerfahren war, ohne zu arbeiten plötzlich so angenehm leben zu können.

Andere Liebhaber kamen und gingen - vom jung verstorbenen Schriftsteller Raymond Radiguet bis zum Schauspieler Jean Marais, Doudou aber blieb einfach da und versah seine Dienste. Dass der junge Mann wenig geistige Neigungen zeigte, allenfalls etwas zeichnete, selbst über einem Krimi aber im Schatten eines Rosenstrauchs bald einschlief, war für den Schriftsteller kein Problem. Er begnügte sich mit seiner Gegenwart. Fast sieht es so aus, als hätte die Beziehung etwas Platonisches gehabt. Mit physischen Annäherungen scheint Cocteau sich jedenfalls zurückgehalten zu haben - von einem gewissen Alter an bekämen viele Dinge im Leben einen lächerlichen Nebeneffekt, notierte er. "Mein Herbst liebte deinen Sommer", dichtete er dennoch voll Hingabe. Hausbesucher berichteten, dass man manchmal bis vier Uhr nachmittags nur flüstern durfte, um Doudou nicht zu wecken.

Diesem Édouard Dermit verdanken wir, dass das Cocteau-Haus weitgehend seinen ursprünglichen Charme bewahrt hat. Nach dem Tod des Schriftstellers blieb er als Erbe bis zu seinem eigenen Tod 1995 im Haus wohnen und rührte nichts an. Drei Zimmer hielt er über all die Jahre hin verschlossen. Die surreal-barocke Einrichtung wurde nicht angetastet, die Werke von Manet, Modigliani, Picasso wie auch von Cocteau selbst verließen nicht ihren Ort. Vor seinem Tod stellte Dermit noch ein Ensemble von 500 Bildern, Zeichnungen, Manuskripten Cocteaus zusammen, die im Haus bleiben sollten.

Im Jahr 2002 wurden Haus und Garten von der Region, dem Département sowie vom Mäzen Pierre Bergé, dem ehemaligen Vertrauten Cocteaus und späteren Geschäftspartner von Yves Saint Laurent, gekauft und restauriert. Der Salon im Erdgeschoss mit dem heiteren Durcheinander aus ovalem Ess- und Schreibtisch, extravaganten Polstersesseln, Holzpferd, Tierplastiken, Spiegeln, Radiomöbeln sowie Christian Bérards großer Wandfreske "Ödipus und der Sphinx" wirkt, als wäre der Hausherr vor einer Sekunde aufgestanden.

"Ich bleibe bei euch." Das ist zwar etwas übertrieben, aber auch nicht ganz falsch

Das Schlafzimmer in der Etage darüber mit dem kleinen Himmelbett und Cocteaus eigener Wandmalerei scheint den Satz aus "Potomak" zu bestätigen: "Der Gedanke entspringt dem Satz wie der Traum dem Geist des Schlafenden je nach der Position nach dem Umdrehen". Und das Schreibzimmer gleich daneben mit der Leopardenfelltapete und den tausend Sachen in allen Ecken spiegelt die Geisteswelt eines ruhlosen Wachträumers. Die übrigen Räume des restaurierten Hauses sind für Ausstellungen da und zeigen neben Cocteaus eigenen Werken Zeichnungen, Bilder, Fotografien von Man Ray, Picasso, Marie Laurencin, Jacques Lipchitz, Andy Warhol.

Am östlichen Ortsausgang Milly-la-Forêts steht die Kapelle Saint-Blaise aus dem 12. Jahrhundert - geweiht dem Patron der Krankenheilkunst. Als Cocteau in seinem Haus einzog, war diese Kapelle ziemlich verfallen. Bürger nahmen sich ihrer an, und die Behörden baten den Künstler, die Innenwände auszumalen. Dieser nahm die Einladung an und malte drei der vier Wände mit übergroßen Heilkräutern vom Boden bis zum Dach aus: Arnika, Enzian, Hahnenfuß und die berühmt gewordene "Minze aus Milly". Nach seinem Tod am 11. Oktober 1963 - eine Stunde davor soll er noch vom Tod Edith Piafs erfahren haben - wurde er neben der Kapelle beigesetzt. Ein paar Monate später bettete man ihn in deren Innenraum um. Dort wurde 1995 auch Édouard Dermit beigesetzt.

Die Kapelle ist Cocteaus Grabstätte geworden, mit diversen Erinnerungsstücken, darunter eine Büste von Arno Breker. "Ich bleibe bei euch", hatte der Künstler unter seine Fresken auf die Wand geschrieben. Das ist nett, wie üblich bei diesem Mann etwas übertrieben, im Grund aber doch nicht ganz falsch. Hinter den friedlichen Steinmauern von Milly-la-Forêt rumort bis heute ein Hauch megalomanischer Poetenfantasie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3639428
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.08.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.