Süddeutsche Zeitung

"Pathos" von Solmaz Khorsand:Gefühlte Gefühle

In ihrem Buch "Pathos" schlägt Solmaz Khorsand der Mehrheitsgesellschaft vor, ein bisschen weniger ergriffen von sich selbst zu sein.

Von Dominik Fürst

Neulich hat sich mal wieder jemand auf Twitter über die Deutsche Bahn beschwert. Weil er seine Bahncard doppelt bekam und nicht mehr stornieren konnte. Oder so ähnlich. Ein kleines, privates Problem jedenfalls, das zur Schau gestellt wurde, als beträfe es die ganze Menschheit. Seht her, ich leide: Das ist Pathos in seiner kleinen, harmlosen Variante, und man könnte vielleicht darüber hinwegsehen, wenn es einem nicht inzwischen an jeder Ecke begegnen würde. Pathos ist das rhetorische Mittel der Stunde.

So beschreibt es jedenfalls die österreichische Journalistin Solmaz Khorsand, die beim Schweizer Online-Magazin Republik arbeitet, in ihrem soeben erschienenen Buch "Pathos": "Pathos ist überall, permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt und wollen das auch mit allen teilen. Am liebsten sofort. Am liebsten mit ganz viel Reichweite."

Wer aus beruflichen Gründen, oder weil ihn privater Masochismus dazu treibt, regelmäßig in den sozialen Medien unterwegs ist, kann dieser Diagnose vermutlich zustimmen. So viele Tweets mit Gefühl, so viele Analysen mit moralischen Bewertungen. Laut Duden ist Pathos feierliche Ergriffenheit, und oft, möchte man hinzufügen, sind die pathetischen Menschen vor allem von sich selbst ergriffen. Man ist deshalb sehr einverstanden, wenn Khorsand zu Beginn ihres Buches fordert, "bitte hin und wieder diese Bühne zu räumen. Hin und wieder die Lautstärke runterzudrehen. Hin und wieder einfach nur still zu sein". Das eigene Pathos dürfe auch gedrosselt werden, wenigstens ab und zu.

Nur wer die Mehrheit auf seiner Seite hat, kann Pathos wirklich gewinnbringend einsetzen

Es folgt dann allerdings glücklicherweise kein weiteres Wehklagen über den Zustand der öffentlichen Debatten im Allgemeinen, sondern die Beschreibung von Pathos als mächtiges Mittel zur Festigung bestehender Strukturen. Nur wer die Mehrheit auf seiner Seite hat, kann es wirklich gewinnbringend einsetzen und darauf hoffen, in seiner gefühligen Übertreibung gehört und verstanden zu werden. Pathos ist ein Privileg. Was zum Beispiel, fragt Khorsand, habe es denn mit der "Krise des weißen Mannes" wirklich auf sich?

Handelt es sich womöglich einfach um die für ihn schmerzhafte Erkenntnis, dass es noch andere gesellschaftliche Akteure gibt, die auch gehört werden wollen und deshalb nicht länger schweigen? "Wer den Anspruch hat", so Khorsand, "die Menschheit als Norm zu repräsentieren - und sei diese Norm noch so fiktiv und imaginiert -, hat auch den Anspruch, seine Krise als eine Krise der gesamten Menschheit zu postulieren." Dieser Anspruch wirke auch umgekehrt, wenn Pathos von oben eingefordert wird, also etwa die Repräsentanten einer Minderheit bitteschön nur so auftreten sollen, wie es für sie vorgesehen ist.

Warum andererseits das laute Klagen und Empören auch eine gute Sache sein kann, wenn etwa Machtstrukturen mit Pathos bekämpft oder gar gekippt werden, zeigt die Autorin auch an mehreren Beispielen. Der Schweizer Juristin Nora Scheidegger gelang es etwa, eine Reform des überkommenen Schweizer Sexualstrafrechts anzustoßen. Und die Amerikanerin Emma González, die einen Amoklauf an einer Schule in Parkland, Florida überlebte, wurde zur Ikone der Bewegung für strengere Waffengesetze. 6 Minuten und 20 Sekunden stand sie vor Tausenden Menschen auf einer Bühne und schwieg, weil der Amokläufer so lange gebraucht hatte, um 17 Menschen zu töten. Pathos, das wirkt: Florida verschärfte seine Waffengesetze, wenigstens ein bisschen.

So gesehen ist Pathos nicht gleich Pathos. Es ist immer Mittel zum Zweck, manche Anliegen haben es mehr verdient als andere. Khorsand gesteht es deshalb nicht jedem zu. Ein Problem sei etwa die Tendenz zur pathetischen Ich-Geschichte im Journalismus: "Das Einzelschicksal wird auf das große Ganze hochgerechnet. Und mittlerweile beginnt das Einzelschicksal bequemerweise gleich beim Autor selbst." Nicht jede Befindlichkeit müsse jedoch gleich geteilt werden, nicht jede Kränkung brauche eine Plattform und nicht jedes Gefühl eine Bühne.

Die leidenschaftliche Übertreibung ist für Solmaz Khorsand letztlich in erster Linie ein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele, die den Marginalisierten helfen. Der Mehrheitsgesellschaft, die sich gerne solidarisch erklärt, aber oft einfach nur von sich selbst überwältigt ist, empfiehlt Khorsand den öffentlichen Pathosverzicht, als Akt der Solidarität: "Dann wäre schon etwas mehr Verteilungsgerechtigkeit in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie gegeben." Einfach mal still sein: ein Rat, der in vielen Lebenslagen hilfreich sein kann. Nicht nur dann, wenn die Deutsche Bahn einen mal wieder gekränkt hat. Dann aber auf jeden Fall.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5234802
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/crab/alex
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.