Süddeutsche Zeitung

Klassik:Erbarmungslos

Endlich wurde Sofia Gubaidulinas grandios apokalyptisches Orchesterwerk "Der Zorn Gottes" in Berlin aufgeführt .

Von Julia Spinola

Kalt glänzend und hart durchschneidet die Stimme Gottes in mächtigen Klangblöcken der Blechbläser die Berliner Philharmonie. In gezackten Riesenschritten schraubt sich ein Motiv Stufe für Stufe in die Höhe, schöpft immer wieder neuen, wütenden Atem, wird bedrohlich lauter und lauter und durchmisst in apodiktischer Strenge und mit mathematischer Klarheit den gesamten Klangraum. Später wird sich "Der Zorn Gottes", wie die mittlerweile 90-jährige und weltweit vielgespielte Komponistin Sofia Gubaidulina ihr neuestes Orchesterwerk nennt, mit niederschmetternder Gewalt und in massiven Akkorden entladen.

Wenn dann im gesamten Orchester das Echo des Anfangsmotivs multipliziert, aufbläht und in eine wüste Raserei verrennt, dann hat man fast den monströs irren Klaus Kinsky vor Augen, wie er in Werner Herzogs Filmklassiker als größenwahnsinniger Konquistador Lope de Aguirre erst den Amazonas und danach die ganze Welt erobern möchte, er verpasst sich selbst den Beinamen "Zorn Gottes". Der Zorn Gottes aber ist ein in der Bibel immer wieder aufscheinendes Motiv, in der Regel zieht er üble Folgen für die Menschheit nach sich. Aber für einen nur oberflächlichen Theaterdonner à la Kinsky ist in Gubaidulinas an Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven geschulter und streng gebauter Musik bei aller Drastik dann doch kein Platz.

"Der Zorn Gottes ist absolut gerechtfertigt", sagt Gubaidulina anlässlich der deutschen Erstaufführung ihres Werks beim Berliner Musikfest. Übergroß sei die Schuld, die die Menschheit auf sich geladen habe durch ihre Hybris, durch den Wahn, gottgleich über die Natur zu regieren und sich über Gott zu erheben. Unter der Leitung des Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons war das zwanzig Minuten dauernde Stück jetzt erstmals vor Publikum zu erleben. Die Uraufführung war nach der verspäteten Fertigstellung der Komposition und Lockdown-Hindernissen mehrfach verschoben worden und hatte 2020 als gestreamtes Konzert des ORF Radio-Sinfonieorchesters Wien stattgefunden. Am Pult stand damals die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv, die den "Zorn Gottes" am kommenden Freitag und Samstag im Saisoneröffnungskonzert der Münchner Philharmoniker in der Isarphilharmonie dirigieren wird.

Illusionslos und ohne jeden Lichtschimmer lässt Gubaidulina den "Zorn Gottes" enden

Musik sei, so Sofia Gubaidulina, für sie eine Gegenwelt und die bedeutendste Form des Widerstands der Menschheit gegen den geistigen Verfall. Im Jahr 1931 im tartarischen Tschistopol geboren, hat sie nach Studien in Kasan und Moskau den Weg zu ihrer unverwechselbaren Klangsprache ohne Konzessionen an die sowjetische Musikdoktrin unbeirrbar verfolgt, trotz jahrelanger Aufführungsverbote. Ermutigt hatte sie dazu sogar der Großmeister Dmitri Schostakowitsch. Kraft und Inspiration zog Gubaidulina wie viele andere Komponisten der Sowjetunion aus einer tiefen Gläubigkeit, die allen ihren Werken einen spirituellen Charakter verleiht. Immer geht es bei ihr um existentielle Glaubensfragen, um Schuld, Versöhnung und Umkehr, um Liebe und Hass. Im Jahr 1981 wurde sie mit der Uraufführung ihres ersten Violinkonzerts "Offertorium" in Wien durch den Geiger Gidon Kremer schlagartig berühmt, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs emigrierte Gubaidulina nach Deutschland.

Mit dem gängigen Nirwana-Versprechen einer weichgespülten Esoterik-Spiritualität allerdings hat "Der Zorn Gottes" gar nichts zu tun, das macht dessen abgründiger Pessimismus überdeutlich. Gubaidulina fühlt sich einer schonungslosen Suche nach Wahrhaftigkeit verpflichtet. Sie lauscht, das klingt nun durchaus esoterisch, dem "Klang des Universums" den beängstigenden Zustand eines allgegenwärtigen Hasses und der völligen Beziehungslosigkeit ab. Der Zorn Gottes geht erbarmungslos auf die Menschheit nieder, weil jeder Dialog scheitert. Zwar stehen den Blechbläsern flehentlich kriechende Streicherteppiche gegenüber, oder es regt sich in den Holzbläsern plötzlich eine plappernde Geschäftigkeit. Aber es findet keine Entwicklung statt. Stattdessen erklingen bloß Variationen, Umkehrungen, Spiegelungen oder Sequenzierungen des einzigen Themas. Mit ihm spielt Gubaidulina auf Beethovens letztes vollendetes Werk an, auf den Finalsatz des sechzehnten Streichquartetts mit dem Titel "Der schwer gefasste Entschluss" und dem vorangestellten Motto "Muss es sein? Es muss sein!"

Illusionslos und ohne jeden Lichtschimmer lässt Gubaidulina "Der Zorn Gottes" auch enden. Zwar wird in glitzernden Farben eine Klangvision beschworen, wie sie typisch ist für eine apotheotische Erlösung. Doch das entpuppt sich als glockenschrillendes und in blendender Überhelle strahlendes Klangbild des Ewigen. Menschen scheint es in diesen Gefilden nicht mehr zu geben.

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