Auch große Schriftsteller haben mal klein angefangen, und kleine Romane sind wunderbar. Die Erzählerin von Sofi Oksanens "Baby Jane", gerade auf Deutsch erschienen, ist noch jung und hat doch schon Angst vorm Altwerden: Sie kann sich nicht alleine durchschlagen, ihre Lebensuntüchtigkeit versteckt sie unter Perlmutt auf den Lidern und Rouge auf den Wangen. Morgens erwartet sie sehnsüchtig den Abgang ihres Lebensgefährten zur Arbeit und gibt sich den Erinnerungen an Piki hin, die sie tatsächlich geliebt hat. Piki war die Butch an ihrer Seite. Ihr Fels - oder zumindest spielte sie ihn, solange sie konnte.
Auch in kleinen Geschichten, die nicht befrachtet sind mit dem Gewicht der ganzen Welt, können Menschen zerbrechen. Man kann sogar genau die Sprünge in ihren Seelen erkennen. Oksanen, Finnin mit estnischen Wurzeln, hat in ihrem Roman "Fegefeuer" die Geschichte Estlands mit zwei Frauenschicksalen verschränkt und sich zuletzt in "Hundepark" die Ausbeutung von Ukrainerinnen für eine Fruchtbarkeitsindustrie vorgenommen. "Baby Jane" bleibt immer in Helsinki, bei den kleinen Leben zweier Frauen, die mit ihren psychischen Problemen alleingelassen werden.
Der titelgebende Film, den Robert Aldrich 1962 gedreht hat, ist der Lieblingsfilm von Bossa, Pikis Ex. Sie bleibt meistens im Off und ist doch nie ganz weg: Weil sie funktioniert, wenn auch mit Niedertracht. Schmerzlich wird der Erzählerin eines Tages bewusst, dass die Ordnung, die sie bei Piki vorfindet, nicht für sie geschaffen wurde - sondern für Piki. Und es ist tatsächlich ein bisschen so wie in "Was geschah wirklich mit Baby Jane?", man weiß nicht so recht, wie sich die Abhängigkeiten und der Irrsinn verteilen.
"Baby Jane" ist Oksanens zweiter Roman, ein herrlich unprätentiöses Buch. Im Original wurde er schon 2005 veröffentlicht - und das erklärt dann vielleicht auch, warum im Glossar so lustige Dinge erklärt werden, an die sich fast zwei Jahrzehnte später kaum noch jemand erinnert: Dass Antila ein Billigkaufhaus in Helsinki war, das es nicht mehr gibt, und wer diese Frauen sind, deren Musik Piki und die Erzählerin so gern hören, Courtney Love und Marianne Faithfull, obwohl so ein Eintrag im Abspann natürlich keinem helfen wird, der ihre brüchige Stimme nicht noch im Ohr hat.
"The Ballad of Lucy Jordan" hören die beiden, und ganz langsam verwandelt sich die Erzählerin in die Frau im Song, mit ihrem neuen Vorstadtleben mit Jonataan, vor dem sie sich mit ihren Erinnerungen an Piki in der Badewanne versteckt: "Dreaming of a thousand lovers 'till the world turned to orange and the room went spinning round." Sofi Oksanens Geschichte hat weder für Piki noch für die Erzählerin eine Zukunft parat, aber man würde ihnen so sehr wünschen, irgendwer hätte sie gerettet.