Süddeutsche Zeitung

Social Media:Die Profiteure des Katzenjammers

In ihren neuen Büchern untersuchen Julia Ebner und Geert Lovink die Anfälligkeit der sozialen Medien für Radikalismen aller Art und Terrorpropaganda. Die Befunde sind alarmierend.

Von Bernd Graff

In diesem Sommer erschien eine Studie von Maik Fielitz und Holger Marcks, die am Hamburger "Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik" arbeiten. Sie beschäftigt sich mit Radikalisierungsprozessen im Netz und trägt den Titel "Digital Fascism: Challenges for the Open Society in Times of Social Media". Damit ist schon gesagt, wo die beiden Forscher den Nährboden für Radikalisierung sehen: In den Sozialen Medien. Sie haben in der Mechanik von Social Media den Grund für die Radikalisierung und massenhafte Verbreitung rechter Gesinnung erkannt. Hate-Kultur und die Unerreichbarkeit ihrer Mitglieder für Korrekturen werden nicht nur erst von Sozialmedien ermöglicht, sondern dort überhaupt erst geschaffen.

So verdienstvoll diese Studie ist, so theoretisch blieb sie bei der Observation ihrer Phänomene stehen. Einen mutigen Schritt weiter ins Innere dieser Hate-Kultur hat nun Julia Ebner getan und bei Rechten wie religiösen Fanatikern Erfahrungen gemacht, um die man sie nicht beneiden möchte. Ebner, die am Londoner Institute for Strategic Dialogue (ISD) forscht, berät internationale Regierungsorganisationen zu Fragen des Online-Extremismus. Das kann man nicht empiriefrei tun, im Vorwort ihrer Buches "Radikalisierungsmaschinen" schreibt sie: Man "muss ins Innere vordringen, in die Maschinenräume, dorthin, wo die Motoren extremistischer Bewegungen laufen". Also hat sie sich zwei Jahre lang unter verschiedenen Pseudonymen in radikale Netzgruppierungen begeben.

Julia Ebner hat Aufnahme-Prozeduren durchlaufen, die etwa nach ihrer möglichst vollständigen genetischen "Abstammungslinie" und Belegfotos ihrer weißen Hautfarbe verlangten, aber auch eine Antwort auf die Frage, ob sie "homosexuell oder anderweitig sexuell anormal" sei. Unter Ächzen und mit einiger persönlicher Überwindung erlangte sie dann Zutritt zur nationalistischen Internationale, mochte sie "MAtR" ("Men Among the Ruins", ein amerikanisches Neonazi-Forum) oder "Reconquista Germanica" heißen, eine technisch versierte Troll-Armee, die der extremen Rechten hierzulande im Netz zuarbeitet.

Doch sie wurde auch Mitglied der "Terror Agency Sister chatting group", einer reinen Frauenverbindung, die den Islamischen Staat unterstützt. Überall trifft sie auf dieselben Mechanismen: Die Betonung von Exklusivität und Auserwähltheit der Gruppe, Verschwörungstheorien, welche die eigene Identität gefährdet sehen und Hass und Gewalt gegen ethnische und kulturelle Minderheiten, aber auch gegen den angeblich manipulativen, "tiefen Staat" befeuern. Live-Stream-Features in sozialen Medien fördern den Gruppengeist, dienen aber auch als Vehikel, Aktionen und Terror viral über die Community hinaus zu verbreiten.

Auffällig sind hier eine Gamifizierung der Terror-Handlungen, als ob alles nur ein Spiel wäre, sowie ein radikaler Jargon der Entmenschlichung des verabscheuten Anderen. So entsteht eine toxische Internetkultur, in der Fakten kaum mehr eine Rolle spielen, zu der dann aber auch eine Verkitschung von Geschichte gehört, die in der Verklärung ausgesuchter Episoden eines nur imaginierten Vergangenen besteht. Es kommt nur in einer makellosen Reinform oder in einer Opfersaga vor.

Alles hier ist Lüge und darauf angelegt, Terrorfantasien zu befördern und zu legitimieren. Dieser "inspirational terrorism" dient als Folie für Nachfolgetaten und wird in Wort und Bild sozialmedial aufbereitet. Auch, um über die Grenzen der eigenen Community hinaus sichtbar zu sein und 'normal' zu werden. Offensichtlich mit Erfolg: "Die Ideologien und die Sprache (der gewaltbereiten Rechten), mit denen sie ihre Aktionsaufrufe unterfüttert, sind schon lange in den Mainstream eingesickert." Ebner nennt etwa die Floskel vom "Großen Austausch", der es in Wahlprogramme rechter Parteien in Europa und in die Tweets von Donald Trump geschafft hat.

"Das Aufkommen von isolierten Echokammern im Internet", so Ebner im fast tagebuchartigen Report ihrer Online-Erlebnisse und realen Begegnungen, "hat massiv Einfluss genommen auf die Art und Weise, wie extremistische Bewegungen Neulinge indoktrinieren und wie sie sicherstellen, dass diese sich sehr schnell mit der Gruppe identifizieren, aber auch abhängig von ihr werden." Nur darum sei hier eine "erhöhte Bereitschaft gegeben, sich selbst aktiv aufzuopfern für die Gruppenideologie, -vision und -ehre. Auf diese Weise werden Selbstmordattentäter geboren - sei es in Form von IS-Märtyrern oder in Form von um sich schießenden Neonazis."

"Das Internet ist wie der Wilde Westen. Wir dachten, wir wären die Cowboys, aber es stellte sich heraus, wir sind die Bisons." So desillusioniert beginnt Geert Lovinks Buch zum "Digitalen Nihilismus". Lovink hat einen Abgesang auf die einst hochfliegenden Digital- und Vernetzungsillusionen der Neunzigerjahre geschrieben. Von der Menschheitsbeglückung durch das Internet sind heute jedoch die nicht kontrollierten, nicht mehr kontrollierbaren Firmen des Silicon Valley geblieben, deren Einfluss immer weiter wächst. "Verhaltensmanipulation und Fake News, alles was wir lesen, dreht sich um die bankrotte Glaubwürdigkeit des Silicon Valley. Beweise sind offenbar nicht genug - nichts verändert sich. Warum gibt es denn nicht schon machbare Alternativen zu den großen Plattformen? (Doch) unsere Reaktionen auf Alt-Right und systemische Gewalt bleiben vorhersehbar und machtlos", man könne auch gleich "zu sprechen aufhören".

Geert Lovink, niederländischer Medientheoretiker, Internetaktivist und -kritiker der ersten Stunde, lehrt als Professor für Medientheorie in Amsterdam und an der European Graduate School. Für ihn ist das Dilemma von Social-Media-Katastrophe und ausbleibender Reaktion, das ihn in einen digitalen Nihilismus treibt, kein Problem von Lethargie, eher eines von struktureller Unmöglichkeit. "Unsere aktuelle Unfähigkeit, auf den Plattformkapitalismus und seine ultimative Form 'technischer Gewalt' zu reagieren, ist keine Folge heftiger Debatten und aufeinanderprallender Positionen. Einerseits müssen wir heute ins Herz der Technik vorstoßen und versuchen, sie uns zu eigen zu machen, gegen die herrschenden Kräfte, die die Technik gegen uns richten. Andererseits gibt es den Aufruf zum Widerstand gegen den digitalen Angriff."

Die von Lovink nur angedeutete, weil nur vermutete Lösung aus dieser doppelten Anforderung, nämlich zugleich innerhalb und außerhalb der dominanten Digitaltechnologien zu agieren, besteht darin, das "Soziale" wieder das Kommando über die Sozialen Medien übernehmen zu lassen. Lovink bleibt da sehr vage und ist auch hier kaum zuversichtlich, wenn er dieses "Soziale" eng mit einer aufgefrischten (Kunst-)Avantgarde assoziiert, die nun entkoppelt ist von "Schönheit, Modernität und Neuheitsschock". Vielmehr arbeite sie in "unsichtbaren Netzwerken ohne Links, Likes und Weiterempfehlungen an der 'Daten-Prävention' ."

Es ist charakteristisch, dass die Bücher von Ebner und Lovink eher schonungslose Befunde als Lösungen formulieren. Radikalisierung und Tribalismen, Mobilisierung von Fanatikern und Frontenbildung in den manipulativen Medien sind längst erkannt und erforscht, doch sie gehen einfach nur weiter, haben längst ein Gefühl von Blockierung, Ohnmacht und Versagen erzeugt. Die Politik, die einschreiten müsste, kann, will oder tut es nicht, der fassungslose Rest kapituliert vor der Überforderung. "Es gibt doch schon genug Stränge und Geschichten, Kommentare und Trolle", schreibt Lovink. "Online-Häresie ist die neue Normalität. Wir leben in einer post-dekonstruktivistischen Zeit, müde, weil wir vernetzt sind." Und terrorisiert, weil wir den Falschen das Netz überlassen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4687860
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.