Skandalöses Kirchenbuch:Tiefe Einblicke in die Welt der Scheinheiligen

Lesbischer Sex, Giftmord, Neuscholastik: Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf enthüllt einen Skandal mit theologischer Dimension. Die Geschichte spielt in einem Nonnenkloster. Einer der Verurteilten schrieb Dogmen für den Papst.

Von Rudolf Neumaier

Gehorsam, dieses Wort klingt sogar auf Italienisch hässlich. Obbedienza. Wer nicht gehorcht, wer nach seinem Willen oder Gewissen handelt, begeht eine Sünde. Maßgebend ist der Befehl - noch dazu, wenn er aus dem Himmel gesandt ist. Wenn aber ein Teufel dahintersteckt, oder eine Teufelin?

In der entscheidenden Stunde musste Maria Luisa gehorsam sein. Ein Befehl Gottes, sagten sie ihr. Das 13-jährige Mädchen stand vor einer nackten Frau, die seine Großmutter hätte sein können: die Äbtissin, die Klosterherrin. Sie lag nackt auf ihrem Bett und eine andere Frau, die Stellvertreterin der Äbtissin, flüsterte Maria Luisa zu, wie sie die Scham der Nackten zu berühren habe. Mit den feuchten Fingern musste sich das Kind dann bekreuzigen. Auf der Stirn, auf den Lippen.

Von dieser Stunde an war Maria Luisa nichts mehr heilig.

Die Akten über die teuflische Ordensschwester Maria Luisa, ihren Prozess, ihr Geständnis schlummern in Rom, im Archiv der Glaubenskongregation, der Dogmenbehörde der katholischen Kirche. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf ahnte, dass die Unterlagen über diesen Fall, der gerüchteweise überliefert war, noch existieren mussten. Dass er sie fand, war Glück. Sie lagen in einer Abteilung, in die sie nicht gehörten. Wolf hält es für möglich, dass sie jemand versteckt hatte. Am kommenden Montag erscheint sein Buch, für das er diese Archivalien bis ins kleinste Detail ausgeforscht hat: "Die Nonnen von Sant'Ambrogio". Es deckt einen Skandal auf, der sich vor gut 150 Jahren in einem Kloster einen Steinwurf vom Vatikan entfernt ereignete.

Im Mittelpunkt dieser unfassbaren Geschichte steht Maria Luisa. Erst war sie Opfer, später Täterin. Lügnerin, Verführerin, Tyrannin, Giftmischerin, Mörderin - alles unter Berufung auf himmlische Weisung. Es ist aber nicht nur der Skandal eines Nonnenklosters, es ist ein Kirchenskandal. Denn der Fall beschäftigte sogar den Papst. Und Schwester Maria Luisa hatte einen Komplizen: Joseph Kleutgen - Seelsorger, Beichtvater, Jesuit, Theologe. Aber eben auch: Lustmolch, Beichtgeheimnisbrecher, Mitwisser bei einem Mordkomplott, Häretiker. Kleutgen, geboren 1811 in Dortmund, war nicht irgendein Theologe, sondern der Spitzenintellektuelle des Papstes. Trotz allem! Auf ihn baute Pius IX., als er den Gehorsam zum Prinzip der Kirche erklärte und ein theoretisches Fundament dafür brauchte. Aus Kleutgens Feder stammt in weiten Teilen das Dogma, mit dem im Jahr 1870 der Papst für unfehlbar erklärt wurde.

Cunnilingus als göttlicher Befehl

Was Maria Luisa mit ihrer Äbtissin erlebte, prägte sich ein, es verdarb sie. Es gibt keine Bilder von ihr, aber wie die Zeitzeugen sie schildern, war die junge Nonne mit einer gewinnenden Ausstrahlung gesegnet und ausgesprochen hübsch, auch klug. Klug genug jedenfalls, um aus den Spielen im Gemach der Äbtissin zu lernen. Diese hatten ihr den Cunnilingus als göttlichen Befehl verkauft: Die Äbtissin sonderte in ihrer Ekstase einen "heiligen Liquor" ab, den Gott dem Kind "als Geschenk" zuteil werden ließ. Das Mädchen fügte sich. Es verinnerlichte diese Erlebnisse. Erst als es selbst geschlechtsreif wurde und die sexuellen Lektionen in den Büchern begriff, die im Kloster kursierten, da erkannte sie die Zusammenhänge von Entrückung und Erregung, von Trance und Orgasmus. Dann fiel sie selbst in Ekstasen. Sie spielte ihren Mitschwestern Visionen vor, Eingebungen aus dem Jenseits. Damit erreichte sie alles, was sie wollte.

Als sie 1854 mit nur 22 Jahren Novizenmeisterin werden wollte, wurde sie Novizenmeisterin. Als sie drei Jahre später Vikarin, das heißt Vertreterin der Äbtissin, werden wollte, wurde sie Vikarin. Wenn sie Dispens von den Gebetsstunden wollte, bekam sie sie. Wenn sie an Fastentagen Fleisch essen wollte, bekam sie es. Wenn sie teuren Schmuck wollte, bekam sie ihn. Wenn sie Geld wollte, nahm sie es sich. Wenn sie Sex mit Novizinnen wollte, bekam sie ihn. Wenn sie über Nacht einen Mann in ihrer Zelle haben wollte, bekam sie ihn. Trotz strenger Klausur.

Es lebten ungefähr 36 Nonnen in dem Kloster - sie leisteten ihr Gehorsam. Denn sie hielten sie für eine Heilige, für ein von Gott auserwähltes Medium, das Stimmen aus dem Jenseits, Eingebungen von Gott selbst oder der Gottesmutter vermittelte - zur Wohlfahrt des Klosters und der katholischen Kirche und zur Rettung der Seelen. Jesu Wundmale fehlten Maria Luisa im Gegensatz zu zeitgenössischen Ekstatikerinnen. Allein sie vermochte sich glaubwürdig in Trance zu versetzen. Es war eine Trance wie bei der Äbtissin, vor der sie sich hatte ausziehen müssen, um lesbische Weihehandlungen an sich vornehmen zu lassen. Und so hatte es auch jene Äbtissin gelernt, als sie selbst noch jung war.

Seelische und körperlich-sexuelle Gewalt hatte Tradition in diesem Orden - sein ganzes totalitäres System fußte auf der Pflicht zur Preisgabe jeglicher Intimität. Auf Gehorsam ohne Schamgrenzen.

Der Fall durfte nicht öffentlich werden

Dieses Kloster stellte in den Augen von Joseph Kleutgen eine ideale Welt dar. Er verdammte die Aufklärung, den "Freiheitswahn", das "Selbstdenkertum", Kant, die Franzosen, das Chaos. Von Ignatius von Loyola, dem Gründer der Jesuiten, stammt der Begriff des Kadavergehorsams ("Obedientia . . . ac si cadaver"). Der Ignatius-Jünger Kleutgen sah darin das beste Modell für die Kirche. Um es theoretisch zu begründen, griff er auf Thomas von Aquin zurück. In seinen Augen "erblühte" auch der Wissenschaft "die wahre Freiheit gerade durch den Gehorsam". Biografen stellten Kleutgen als Übervater der Neuscholastik dar, weil er sie als einzig wahre katholische Theologie durchgesetzt habe. Von seinen Vergehen im Kloster wussten die Biografen so gut wie nichts. Pius IX. ordnete Diskretion an - der Fall Sant'Ambrogio durfte nicht öffentlich werden.

Kleutgen trat seinen Dienst als Seelsorger und Beichtvater 1856 unter einem Pseudonym an: Joseph Peters. Diesen Namen hatte er sich zugelegt, als er in Deutschland wegen politischer Aktivitäten während des Studiums verfolgt wurde. Maria Luisa kannte ihn also nur als Pater Peters. Exakt in diese Zeit fallen auch Kleutgens Arbeiten über das kirchliche Lehramt. Bis zum Pontifikat Pius' IX. war in dieser Form kein "Ordentliches Lehramt" konstituiert. Erst Kleutgen definierte es - eine Vorstufe des Unfehlbarkeitsdogmas. Kleutgens Konzept ist bislang unumstößlich: Heute verweisen ultramontane Kleriker mehr denn je auf dieses Lehramt, wenn sie sich gegen Reformen verteidigen.

Geistig führte der Mann ein Doppelleben. Als Berater der Kardinäle und des Papstes, als theologischem Wissenschaftler konnten ihm die Regeln der Kirche nicht streng genug sein. Doch als Seelsorger brach er sie fortlaufend. Seine Thesen wirken lächerlich angesichts seiner Taten. Die Ermittlungsakten enthalten beschämende Beweise für seine Vergehen. Doch Kleutgen stritt zunächst alles ab.

Etwas stimmte nicht

Der Inquisition begann auf die Anzeige einer reichen Adeligen hin zu ermitteln. Katharina von Hohenzollern-Sigmaringen war im März 1858 mit 41 Jahren in das Kloster Sant'Ambrogio eingetreten. Sie fühlte sich anfangs wohl unter den Nonnen, die alle lesen und schreiben konnten, jedoch weder Baumwolle noch Zahnbürste kannten.

Nach und nach merkte Katharina, dass etwas nicht stimmte. Sie begriff, dass sich Maria Luisa als Heilige verehren ließ. Der gebildeten Adeligen aus Deutschland war das suspekt. Und als sie Zeugin wurde von deren Verhältnis zu einem zwielichtigen Mann, der vorgab vom Teufel besessen zu sein, stellte sie die Novizenmeisterin zur Rede. Damit verletzte sie die Gehorsamspflicht. Diese Frau war zu einflussreich und zu prominent, um sie aus dem Kloster zu entlassen. Sie könnte alles aufdecken, also besorgte Maria Luisa Gift - so hatte sie schon andere Fälle gelöst. Allein Katharina von Hohenzollern überlebte die Anschläge knapp, ihre enorme Leibesfülle kam ihr zugute. Ein Elefant, schreibt Wolf, wäre bei diesen Dosen an Opium eingegangen. Mit Glück gelang der Deutschen die Flucht.

Ihr Bericht über die Vorgänge im Kloster enthielt mehrere Vorwürfe: den Mordkomplott, sexuelle Devianzen, angemaßte Heiligkeit und verbotene Kulte. Das Heilige Tribunal des Sanctum Officium, wie die Glaubenskongregation damals noch hieß, legte den Fall nach Vorermittlungen Papst Pius zur Entscheidung vor. Er ordnete eine Untersuchung an, aber nur wegen des Vorwurfs der angemaßten Heiligkeit und des verbotenen Kultes. Den Mordanschlag wollte er nicht wahrhaben, von sexuellen Übergriffen wollte er nichts wissen.

Als lebende Heilige verehrt

Ehe der Papst die Ermittlungskommission einsetzte, beförderte er zwei seiner Kardinäle aus der Schusslinie. Der eine war als Kardinalvikar von Rom geistiges Oberhaupt des Klosters und hatte von den Vorgängen dort seltsamerweise nichts mitbekommen. Der andere, der zu abergläubischen Extravaganzen neigende Karl August von Reisach aus München, kannte sich im Kloster gut aus und hatte nichts gegen die Zustände unternommen - im Gegenteil! Beide Kardinäle brachte der Papst in Sicherheit, indem er einen als obersten Leiter der Untersuchungen einsetzte und den anderen in das Richtergremium berief. Auf ihren bedingungslosen Gehorsam konnte er fortan zählen.

Ein Dominikanerpater namens Vincenzo Leone Sallua führte die Vernehmungen. Die Aussagen sämtlicher befragter Nonnen, die wörtlich niedergeschrieben wurden, belasteten Maria Luisa ebenso schwer wie Joseph Kleutgen. Vor allem weil sie in wesentlichen Details übereinstimmten. Sallua begann mit der Frage nach dem verbotenen Kult. Diese Häresie, die in Sant'Ambrogio betrieben wurde, wurzelt in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als der Orden entstand. Gegründet wurde er von einer Frau, die den Vatikan spaltete: Agnese Firrao. Es gab Kleriker, die ihren Visionen glaubten - die sie für eine lebende Heilige hielten und als solche verehrten. Papst Leo XII. zum Beispiel. Es gab aber auch Männer, die Agnese Firrao durchschauten. Das Heilige Offizium untersagte die Verehrung im Jahr 1816 und verbannte die falsche Heilige in ein anderes Kloster. Allein ihre Schwestern blieben ihr treu ergeben und ließen sich aus der Ferne von ihr durch Briefe steuern.

Lesbische Abenteuer als Konvention

Die Ermittlungen gegen Maria Luisa und ihre Komplizen förderten all die alten Geschichten noch einmal zu Tage - und das klarer als je zuvor. In der Ahnenreihe der Ordensoberinnen war Agnese Firrao die erste große Betrügerin, die Urheberin dämonischer Rituale in einem subtil entwickelten System, das auf einer Pseudoreligion beruhte: auf dem Glauben an Agneses Heiligkeit. Dass sie zweimal schwanger wurde? Ein Werk des Teufels, der sich an der armen Magd verging! Die Föten wurden im Krankenhaus zum Heiligen Geist entfernt. Dass sie sich von Untergebenen sexuell befriedigen ließ? So wollte es Gott! Dass sie einen "Außerordentlichen Segen" einführte, den Zungenkuss mit dem Beichtvater? Gottes Auftrag! Man glaubte Agnese Firrao, schließlich wirkte sie Wunder und lebte ostensibel in Askese: Um die Sünden der Welt zu tilgen, legte sie sich eine Eisenmaske mit 54 spitzen Nägeln an und klemmte minutenlang ihre Zunge unter einen schweren Stein, damit ihr keine Gotteslästerung über die Lippen komme. Großes Theater.

Lesbische Abenteuer unter Schwestern und besonders innige Beziehungen zu den Beichtvätern waren seit der Gründung Konvention in diesem Orden. Die Äbtissin, der Maria Luisa im Schlafzimmer gehorchen musste, tradierte sie nur - sie selbst vollzog als junge Frau mit Agnese Firrao und einem Priester Geschlechtsverkehr - zu dritt in einem Bett.

An keiner Stelle fiktional

In diesem Sittengemälde eines Systems, das auf Gehorsam statt auf Gewissen setzt, erspart Hubert Wolf den Lesern keine Details. Mit wissenschaftlicher Akribie hinterfragt er die Quellen und die Aussagen aller Beteiligten, ebenso die Rolle der Inquisitoren. Er zitiert seine Quellen auch da, wo es wehtut und wo Leser unweigerlich erröten, weil sie keine Voyeure sein wollen. Obgleich es sich um eine wissenschaftliche Aufarbeitung und fundierte Einordnung der Vorgänge handelt, sind sie meisterhaft erzählt - mit Überraschungseffekten, die vom Autor eines Kriminalromans stammen könnten.

Auch wenn sie an Umberto Ecos "Der Name der Rose" erinnert: Diese Geschichte des Münsteraner Professors und geweihten Priesters Wolf ist an keiner Stelle fiktional. Wie aus heiterem Himmel donnert auf Seite 330 ein neuer Name in die Handlung, es erscheint der Beichtvater Peters zur Vernehmung bei der Inquisition und sagt, hallo erst mal, ich heiße in Wirklichkeit - Joseph Kleutgen. Von einer Zeile auf die andere hat das Buch eine historische Dimension, die in die heutige Zeit reicht. Dieser Kleutgen wand sich. Zu den Vorwürfen, die angemaßte Heiligkeit der Maria Luisa unterstützt zu haben, räumt er ein, zu gutgläubig gewesen zu sein.

Ein Intellektueller, der sich von einer jungen Nonne weismachen lässt, in ihrer Gestalt sei der Teufel erschienen und habe dies und das angestellt? Kleutgen blieb bei seiner Darstellung. Die anderen Anklagepunkte aber konnte nicht einmal er, der geschulte Dialektiker und Gedankenverdreher, entkräften. Ja, er wusste, dass auf Katharina von Hohenzollern ein Mordanschlag verübt werden sollte. Ja, er brach das Beichtegeheimnis - wenn auch nur auf die Weisung der Gottesmutter hin. Ja, er übernachtete in Maria Luisas Bett. Ja, er hatte eine intime Affäre mit einer Römerin, die bei ihm gebeichtet hatte - allerdings, das betonte er, habe er bei dieser von Gott ausdrücklich angeordneten Form der Seelsorge keinerlei Begehren oder gar Lust verspürt.

Drei Morde und ein Mordanschlag

Das musste Kleutgen behaupten. Schließlich vertrat er als einer der führenden Theologen des Papstes die Auffassung, zwischen Lehre und Lebenswandel könne es keinen Widerspruch geben!

Die beiden Kardinäle, die als Mitwisser indirekt in den Fall verwickelt waren, kamen ungeschoren davon. Vielmehr vertraten sie nun das ordentliche Lehramt und durften bei den Urteilen mitentscheiden. Maria Luisa hätte vor einem weltlichen Gericht mit der Todesstrafe rechnen müssen, schließlich hatte sie drei Morde und einen Mordanschlag gestanden. Das Heilige Offizium verurteilte sie zu einer Klosterhaft und zum Schweigen. Von dort in eine Irrenanstalt, dann landete sie in der Gosse, wo sich ihre Spur verliert.

Die Klosterhaft des Häretikers Joseph Kleutgen in einer Art Kurhotel außerhalb Roms halbierte der Papst auf anderthalb Jahre. Dann holte er ihn zurück in die Kurie. Und Kleutgen schrieb Geschichte.

Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte. Verlag C.H. Beck, München 2013, 544 Seiten, 24,95 Euro.

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