Skandalbuch von Sylvain Gouguenheim:Der Mittelalter-Sarrazin
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Ausdruck einer ideologischen Haltung: In Frankreich löste "Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel" einen Skandal aus, nun liegt das Buch in deutscher Übersetzung vor. In einem historischen Kreuzzug stellt der Autor Sylvain Gouguenheim die Leistung der arabischen Wissenschaft für Europa in Frage.
Thomas Ricklin
Autoren wissenschaftlicher Werke, die sich an ein größeres Publikum wenden, formulieren ihre Thesen gern etwas plakativer. So hat es auch Sylvain Gouguenheim mit seinem vor drei Jahren auf Französisch erschienenen Buch Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel gehalten, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.
Ihm zufolge erleben wir derzeit das Wiedererstarken der Rede vom "Dunklen Mittelalter", die "das Bild einer Christenheit an der Leine eines ,aufgeklärten Islam'" propagiert. Damit wird, so der Autor, die Bedeutung des griechischen Kulturraums für die europäische Wissenschaft und Kultur vorsätzlich unterschlagen, und zwar zugunsten von angeblichen, aber fragwürdigen arabisch-islamischen Transferleistungen.
Gouguenheim zufolge ist dieses Bild falsch. Beweisen will er dies vor allem, indem er endlich einen Mann ins rechte Licht setzt, von dem er behauptet, er sei bisher weitgehend mit Schweigen übergangen worden. Bei diesem Mann handelt es sich um Jakob von Venedig, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts Werke des Aristoteles aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt hat. Gouguenheim zufolge, und damit ist auch der Titel seines Buches geklärt, hat er das im Zentrum einer "Front von geistigem Pioniertum in der europäischen Kultur" in der normannischen Abtei Mont-Saint-Michel getan.
In Frankreich wurde Gouguenheims Buch kurz nach seinem Erscheinen in der Tageszeitung Le Monde überaus wohlwollend besprochen. Doch damit war es mit dem intellektuell einigermaßen redlichen Wohlwollen auch schon vorbei. Dozenten und Studierende der École Normale Supérieure von Lyon, wo Gouguenheim als Professor für mittelalterliche Geschichte lehrt, distanzierten sich mit einer Petition von seinem Buch. Sie wiesen darauf hin, dass fremdenfeindlich-nationalistische Zirkel ganze Passagen daraus ins Internet gestellt hatten.
Wenige Tage später veröffentlichte die Tageszeitung Libération ein von 56 renommierten Fachwissenschaftlern unterschriebenes Protestschreiben, das mit der Feststellung endet, Gouguenheims Ausführungen seien in keiner Weise wissenschaftlich, sondern Ausdruck einer ideologischen Haltung, deren politische Implikationen inakzeptabel seien.
Dem ist, was die politische Einschätzung von Gouguenheims Buch betrifft, tatsächlich nichts hinzuzufügen. Die wissenschaftliche Feinarbeit des Nachweises der zahllosen handwerklichen Fehler, die Gouguenheim begangen hat, und der Auseinandersetzung mit seinen islamophobischen Geschichtsthesen ist trotzdem nicht ausgeblieben. Die entsprechenden Beiträge, und es sind nicht eben wenige, sind in der deutschen Ausgabe von "Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel" bestens dokumentiert. Denn der deutschen Version des Buches, deren Erscheinen sich nicht von ungefähr verzögert hat, ist ein dreißigseitiger Kommentar beigegeben, für den Martin Kintzinger und Daniel König verantwortlich zeichnen.
"Mangelnde Differenziertheit"
Darin wird natürlich der Skandal rekapituliert, den das Buch in Frankreich ausgelöst hat. Vor allem aber wird ausgeführt, wieso sich das Buch zu Recht dem Vorwurf der "mangelnden Differenziertheit" ausgesetzt sieht, wieso es des "Kulturessentialismus" bezichtigt werden darf; dass es mit einem "allzu stark vereinfachten Thesenkonvolut" arbeitet, dass "mangelnde Nutzung des neuesten Standardwerks zum griechisch/syrisch-arabischen Wissenschaftstransfer" zu konstatieren ist, dass eine "Überbetonung des Ideologischen" vorliegt, es sich um ein "politisches Manifest" handelt, der Autor "die Grundlagen methodisch seriöser wissenschaftlicher Argumentation" verlässt und "die Vorwürfe gegen Gouguenheims Buch (. . .) ernst zu nehmen" sind.
Normalerweise lehnt ein Verlag, dem solche Fachgutachten zu einer geplanten Publikation vorliegen, die Veröffentlichung des derart zerzausten Werkes ab. Wieso ausgerechnet die korrekte und solide Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt von diesem Usus Abstand genommen hat, lässt sich dem Buch nicht entnehmen. Feststellen lässt sich allerdings, dass man es beim Verlag mit der Drucklegung der von Jochen Grube flott übersetzten Schrift, vielleicht in der Hoffnung, so etwas wie einen Mittelalter-Sarrazin zu lancieren, offenkundig eilig hatte. Anders lässt sich nicht erklären, wieso im Literaturverzeichnis diverse Autorinnen zu Autoren mutieren und die Fußnoten zur Zusammenfassung sowie zu den Anhängen fehlen.
Vermutet werden darf zudem, dass es einem der Verantwortlichen des Verlags mit dem Buch nicht wirklich wohl war, fehlen dem deutschen Gouguenheim doch jene Seiten, die die Überschrift "Himmlers Freundin und die ,Sonne Allahs'" tragen müssten. So bleibt dem deutschen Publikum ohne jede Begründung eine durchaus zutreffende Zusammenfassung der nationalsozialistischen Karriere von Sigrid Hunke erspart. Vor allem aber wird ihm dank dieser Auslassung Gouguenheims These vorenthalten, dass ebendiese Sigrid Hunke mit ihrem Buch Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe aus dem Jahre 1960 das Urbild jener zahlreichen Wissenschaftler sei, die sich, von ihrem Forschungsgegenstand fasziniert, zu einer harschen Kritik der europäischen Welt verleiten ließen.
Die Unterschlagung dieser kruden Ausführungen ist insofern zu bedauern, als damit genau jene Passage fehlt, die am deutlichsten vor Augen führt, wie Gouguenheim eine scientific community traktiert, der er vorhält, sie rede in arabophiler Verblendung das christliche Mittelalter schlecht und verschweige das Wirken der wahren Heroen der mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte. Wie das Nachwort des Autors zur deutschen Ausgabe belegt, hat mittlerweile freilich Gouguenheim selbst mindestens ansatzweise einsehen müssen, dass er sich mächtig verirrt hat.
Zwar nimmt er hier nicht zu den von Kintzinger und König im Kommentar vorgebrachten, gelinde gesagt fundamentalen Kritiken Stellung, sondern zu den ebenfalls höchst begründeten, aber nur sehr punktuellen Fehlerlisten, die zwei international überaus anerkannte Spezialisten der mittelalterlichen Philosophie zu seinem Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel publiziert haben. Hier, ganz am Ende seines Buches, räumt er also ein: "Die Abtei von Saint-Michel war demnach kein Übersetzungszentrum, wie ich dachte: Die Indizien dafür sind nicht überzeugend."
Das ist zweifellos richtig. Die normannische Abtei war kein Übersetzungszentrum, und so hat, könnte man vergnügt zu schließen versucht sein, Gouguenheims Mont-Saint-Michel also nur eine Maus geboren, und die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat sich den Scherz erlaubt, ein Buch zu publizieren, von dem selbst sein Autor im Nachhinein einräumt, dass die Demonstration der These nicht gelungen ist. Ganz so lustig verhält es sich dennoch nicht. Nicht weil das Buch, trotz der Veröffentlichung entsprechender Fehlerlisten durch andere Wissenschaftler, nach wie vor von Fehlern strotzt.
So liest zum Beispiel noch immer ein unbescholtener Autor nach seinem Tod die Metaphysik des Aristoteles und trägt die entsprechenden Lesefrüchte posthum in sein Werk ein; Jakob von Venedig wird weiterhin für die Übersetzung aristotelischer Schriften gelobt, die er nachweislich nicht übersetzt hat. Das Fachpublikum weiß bereits um die gründliche Fehlleistung, und den interessierten Laien werden die historischen Irrtümer hoffentlich nicht allzu sehr im Gedächtnis haften bleiben - als Korrektiv bietet sich zum Beispiel das jüngst erschienene, ausgewogene Buch von Jim al-Khalili über die Geschichte der arabischen Wissenschaften an ("Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur", siehe SZ vom 4. Juli).
Versuch einer retrospektiven Radikalisierung
Nein, kategorisch zurückzuweisen ist vielmehr der Versuch, uns glauben zu machen, es sei zulässig, das Verhältnis zwischen Christen und Arabern im Mittelalter so darzustellen, dass dabei "eine radikale, als unerbittlich empfundene Feindschaft", wie Gouguenheim sich ausdrückt, herauskommt. Dass es tatsächlich Menschen und auch Gruppen gibt, die eine solche Feindschaft leben, lehrt unsere Gegenwart in erschreckender Weise.
Aus dem Verhalten solcher Menschen und Gruppen auf die Gepflogenheiten ganzer Kulturen zurückzuschließen, ist weder methodisch noch ethisch statthaft. Ihre verblendete Wahrnehmung von Gegenwart und Vergangenheit auf unsere Geschichte zu übertragen, ist menschenverachtend. Wer mittelalterliche Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte wie Gouguenheim in dieser Perspektive betreibt, dessen Thesen sind für das Fach schlicht unbrauchbar und den Soziologen und Politologen zur weiteren Analyse zu überstellen.
Entsprechend wenig sinnvoll ist es, die von Gouguenheim in einer eigenen Mischung aus Halbwahrheit und Unterschlagung im großen Stil betriebene Quellenmanipulation Seite für Seite kritisch zu durchleuchten. Hingegen ist grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass viele der lateinischen Gelehrten, die Gouguenheim als die wahren Helden seines wissenschaftshistorischen Kreuzzuges porträtiert, die wissenschaftlichen Kompetenzen in der Welt jenseits des Mittelmeers ausdrücklich positiv würdigten.
Johannes von Salisbury zum Beispiel, der Gouguenheims Darstellung zufolge in seinem "Metalogicon" als erster Europäer die aristotelische "Analytica posteriora" kommentierte, ist der erste lateinische Autor seit der Spätantike, der um 1159 die beiden kurz zuvor entstandenen, neuen lateinischen Übersetzungen der Zweiten Analytik des Aristoteles zitiert. Johannes ist sich dieses Umstandes auch bewusst und geht in einem eigenen Kapitel des "Metalogicon" der Frage nach, wie es kommt, dass die Lateiner diesen Text nicht benutzen.
Gezielte Auslassung
Seinen Erläuterungen zufolge beschäftigt sich kaum jemand mit dieser Schrift, weil die in ihr dargestellte Art der Beweisführung nur von Fachleuten der Mathematik und der Geometrie praktiziert wird. Diese Disziplinen seien bei uns aber nicht besonders bekannt, außer vielleicht in Spanien oder an der Grenze Afrikas. Die Völker dieser Regionen, so John von Salisbury, würden aufgrund ihres Interesses für die Astronomie mehr Geometrie betreiben als die anderen. Ebenso verhalte es sich in Ägypten und bei nicht wenigen Völkern Arabiens.
Es versteht sich von selbst, dass Gouguenheim diese Ausführungen des späteren Bischof von Chartres nicht anführt. Er erwähnt diese und viele vergleichbare Stellen bei anderen lateinischen Autoren nicht, weil sie aufgrund ihrer Anerkennung der Kompetenzen arabischer Gelehrsamkeit schlicht nicht in seine auf eine unerbitterliche Konfrontation der Kulturen angelegte Geschichte passen. So kommt es dann, dass es sich mit seinem Buch wie mit den Zweiten Analytiken verhält, die Johannes von Salisbury verstehen möchte und doch nur feststellen kann, dass sie in der ihm vorliegenden Gestalt beinahe so viele Stolpersteine wie Kapitel enthalten.
Wer sich dennoch auf "Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel" einlassen will, tut deshalb gut daran, sich mit einer Benutzerkarte einer guten wissenschaftlichen Bibliothek auszurüsten, um Beleg für Beleg zu überprüfen. Er wird umgehend auf neugierige Menschen und interessante Gedanken stoßen und auf deutlich zukunftsträchtigere Geschichten der kulturellen Auseinandersetzung, als Sylvain Gouguenheim sie erzählt.
SYLVAIN GOUGUENHEIM: Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes. Aus dem Französischen von Jochen Grube. Mit einem Kommentar von Martin Kintzinger und Daniel König. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011. 265 Seiten, 29,90 Euro.