Süddeutsche Zeitung

Skandal um Vetternwirtschaft:Föderaler Wahnwitz ARD

Spektakulärer Einzelfall oder gängige Praxis? Nach dem Kungelei-Skandal um Fernsehfilm-Chefin Heinze stellt sich beim NDR auch die Systemfrage.

Hans Leyendecker

Der Begriff "System" bezeichnet eine Ordnung, nach der etwas organisiert, aufgebaut wird. Das Fremdwort geht auf das griechische systema zurück: "Das aus mehreren Teilen zusammengesetzte und gegliederte Ganze".

Im Zusammenhang mit dem von der SZ aufgedeckten Nepotismus der suspendierten Fernsehfilmchefin des NDR, Doris J. Heinze, sprechen auch Hierarchen des Senders von einem "System". Die Frage ist nur, ob sie das Große und Ganze meinen, oder ob ihr "Systemvergleich" nur bedeuten soll, dass Akteure im Sender, in Produktionsfirmen und im entsprechenden Milieu systematisch vorgegangen sind und wie Spinnen ein Netz gesponnen haben, in dem sich andere verfingen.

Fernsehanstalten sind keine Insel der Seligen

Bei den Flanellmännchen der ARD ist derzeit die These weit verbreitet, die Causa sei zwar, zugegebenermaßen, spektakulär, doch eigentlich handele es sich um einen Einzelfall. Unangenehm, aber ein Problem der Norddeutschen. Es sei kaum möglich, so was zu verhindern. Mancher meint sogar, über das ganze Land sei ohnehin ein Netz gespannt. Es gibt, das haben die großen Bankenskandale gezeigt, tatsächlich keinen wirtschaftlichen Bereich, in dem nicht irgendjemand außerhalb der Regeln den Vorteil sucht. Es gibt keinen Fußbreit Boden im weltumspannenden Reich der Wirtschaft, den man sorglos betreten könnte.

Fernsehanstalten sind keine Inseln der Seligen. Nicht einmal Klöster sind das.

Wer aber behauptet, Anstalten seien nicht in der Lage, ihr Verhalten so zu korrigieren, dass die Verwirklichung von schwersten Regelverletzungen oder von Straftatbeständen zumindest vermieden wird, argumentiert riskant: Denn dann müsste man solche Einrichtungen, darauf hat die Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff in anderem Zusammenhang hingewiesen, "wie Unzurechnungsfähige behandeln und ihnen die Verfügung über die Schädigungsmöglichkeiten, die sie prinzipiell nicht beherrschen, entziehen".

Die Systemfrage umfasst nicht nur krankes Sendungsbewusstsein, das oft Qualität verhindert, sondern: Kontrollversagen, Kartelle, Korruption, Vetternwirtschaft, Willkür, Nepotismus und lauter Abläufe, die nach dem Mafiaprinzip funktionieren: "Lass mich in Ruhe, dann lass ich dich in Ruhe und von draußen lassen wir schon gar keinen reinschauen".

Kompetente Prüfer fehlen

Die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) ist ein föderaler Wahnwitz mit ganz vielen Kontrolleuren, die über die Einhaltung der Programmgrundsätze wachen sollen, den Intendanten wählen, den Haushalt genehmigen, aber ansonsten nicht kontrollieren. Es gibt zig Koordinatoren, Kommissionen, Unterkommissionen, und bei so viel Gremientuerei geht offenkundig der Durchblick völlig verloren.

Dass bei fast allen Sendern, den NDR eingeschlossen, bislang kein Compliance-System existiert, das die Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen und internen Standards sicherstellen soll, ist mehr als ein Versäumnis. Es ist ein Systemfehler.

Noch immer gibt es in den Anstalten kaum Möglichkeiten, Tippgeber, die auf Unregelmäßigkeiten hinweisen, ausreichend zu schützen. Sogar in Fernsehkrimis kommen mittlerweile Ombudsleute vor, die solche Hinweise sammeln, doch in den Sendern fehlen kompetente Prüfer, und es gibt keine anonymen Hotlines: Fast ein Jahrzehnt lang wurde beim NDR gemauschelt und bezeichnend ist, dass die Mitarbeiter erst jetzt auspacken. Vorher herrschte die Omerta: Wer redet, fliegt. Die Mitarbeiter trauten sich nicht, den Verdacht, den alle hatten, zu melden.

Die Staatsanwaltschaft prüft den Fall, aber eigentlich müsste auch das Kartellamt ran. Der freie Wettbewerb der Freien ist praktisch ausgeschaltet, weil Sendeplatzverteiler vorrangig die Tochterfirmen der Sender bedienen und danach die Produktionsfirmen, die willfährig sind. Wer einen Großauftrag bekommt, ist fortan käuflich oder auch, wie der Fall Heinze-AllMedia zeigt, zu illegalen Handreichungen bereit.

Wer nicht spurt, fliegt

Regisseure, die sich was trauten oder zu frech nachfragten, Produktionsleute, die sich wunderten, wurden eingeschüchtert. Gefordert wird Anpassung um jeden Preis. Wer nicht spurt, fliegt raus. Wer zahlt, bestimmt die Musik. Kungelei, Kumpanei, Schiebereien, Käuflichkeit bestimmen oft das Klima.

In der oft quälenden Qualitätsdiskussion wird gern beklagt, dass andere Erzählweisen im Fernsehen zu wenig vorkommen, dass es an klugen Serien und Filmen fehlt, aber hemmungslose Assimilation kostet Qualität. In Jurys und in den so genannten Wiederholungskommissionen sitzen Sendermitarbeiter, die sich Plätze, Preise und anderes zuschieben.

Wenn eine Anstalt quasi als Monopolist darüber bestimmt, wer was produzieren darf, ist die Korruption, wie Alt-Linke sagen würden, systemimmanent. Korrupt sind alle, die sich auf Kosten des Gebührenzahlers eigene Vorteile verschaffen, bestechlich ist aber auch derjenige, der seine eigene Senderkarriere vorwärts bringt, indem er gegen die eigene Überzeugung die Meinung und die Praktiken derjenigen unterstützt, die die Fäden seiner Karriere in der Hand halten.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2009/tob
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