Süddeutsche Zeitung

"Black Planet":Gespenstischer Instinkt

Mark Andrews minutiös recherchierte Biografie der "Sisters of Mercy" und ihres grandios sardonischen Sängers Andrew Eldritch.

Von Tobias Haberl

Man kann die Sisters of Mercy auf der Bühne erlebt und trotzdem kaum gesehen haben. Seitdem sich ihr Sänger Andrew Eldritch in den frühen Achtzigern in die theatralischen Effekte von Trockeneisnebel vernarrt hatte, ließ er sich bei Konzerten allenfalls als Silhouette erahnen: ein Wesen mit breitkrempigem Westernhut, "dünn wie eine Kreditkarte", das sich am Mikrofonständer festklammerte, nur gelegentlich huschte ein glimmendes Pünktchen durchs Nebeldickicht, Eldritchs obligatorische Zigarette.

Inzwischen sieht man dem 63 Jahre alten, kahlköpfigen Sänger kaum noch an, dass er mal ein verdammter Rockstar, ja ein Mythos war, dem bis heute obsessiv gehuldigt wird. Er geht zwar immer noch auf Tour, hat aber seit 32 Jahren kein Album aufgenommen. Trotzdem gehört Eldritch zu den Ikonen der britischen Popkultur, auch weil er, selbst wenn er sich ausnahmsweise interviewen ließ, nie etwas von sich preisgab außer rätselhaft-sarkastischen Bemerkungen.

"Der schwierigste Dreckskerl, mit dem ich je zusammenarbeiten musste"

Licht ins Dunkel bringt nun ein Buch des britischen Journalisten Mark Andrews, das anhand zahlloser Interviews mit Wegbegleitern den Aufstieg (und die Selbstzerlegung) der nach einem Lied von Leonard Cohen benannten Band nachzeichnet. Es ist die Zeit zwischen 1978 und 1984, als der Punk in Großbritannien seine Wucht verlor und sich ein Haufen junger Bands auf die Suche nach dem neuen großen Ding machten: Joy Division, The Smiths, The Sisters of Mercy, Letztere mit einem düster-psychedelischen Amalgam aus Gothic- und Glamrock-Elementen.

Im Zentrum der minutiös recherchierten Bandbiografie stehen die Jahre 1980 bis 1985, obwohl sich der lang ersehnte internationale Durchbruch erst danach einstellte. Gerade deshalb ist so ziemlich alles dabei, was die vordigitale Ära der Rockmusik wehmütig ins Gedächtnis ruft: Kohlekraftwerke am Stadtrand, Scrabble-Partien auf Speed, der Geruch von Schnüffelkleber, in den Schritt gestopfte Socken, vollgekotzte Gitarristen, grausam klingende Demo-Tapes sowie ein dominant-besessener Bandleader mit einem gespenstischen Instinkt für Attitüde und Selbstinszenierung.

Praktisch alle, die auf den 360 Seiten zu Wort kommen, sind sich einig: Andrew Eldritch, der eigentlich Andrew Taylor heißt und dem gegen alle Wahrscheinlichkeit die Metamorphose vom Oxford-Studenten zur charismatischen Kunstfigur gelang, sei charmant, hochintelligent und diszipliniert, aber eben auch pedantisch, arrogant, egomanisch. Ein obsessiver David-Bowie-Fan, der sechs Sprachen spricht und seine Rockstarwerdung mit eisernem Willen und tonnenweise Speed vorantrieb. Max Hole, der in den achtziger Jahren für Warner Music arbeitete und später Universal-Chef wurde, sagt über das Band-Foto auf seinem Schreibtisch: "Es soll mich an den schwierigsten Dreckskerl erinnern, mit dem ich je zusammenarbeiten musste."

Einmal machte er einen Clubbetreiber zur Schnecke, weil der das Wort "metaphysisch" falsch benutzt hatte

So warmherzig Andrew Taylor gewesen sein mag, so eisig konnte Eldritch Gesprächspartner auflaufen lassen. Einmal machte er einen Clubbetreiber zur Schnecke, weil der das Wort "metaphysisch" falsch benutzt hatte, ein andermal antwortete er auf die Frage eines Bandkollegen nach Feuer: "Du bist selbst für deine Streichhölzer verantwortlich. Ich habe noch genau drei Stück, weil ich heute Abend noch drei Zigaretten rauchen werde." Irgendwann hatte sich Taylor mit seinem Alter Ego Eldritch verheddert, die Aufnahmen zur ersten Platte "First and Last and Always" gerieten zur Tortur, an deren Ende erst Eldritch (mit 45 Kilo!) und dann die Band zusammenbrach. Und so ist dieses Buch beides, eine Triumph- und Verfallsgeschichte, aber auch die Huldigung eines Ausnahme- und Renaissancemenschen, der grandios sardonische Songzeilen in die Welt raunte: "Pain looks great on other people. That's what they're for".

Es ist eine der Leistungen des Buchs, die Band von sämtlichen Gothic-Klischees zu befreien. Die Sisters of Mercy hatten nichts mit Esoterik oder schwarzer Magie zu tun. Lieber spielte man Snooker im Pub oder genehmigte sich noch eine Prise Speed, und als Eldritch es tatsächlich zum Star gebracht hatte, machte er es sich in keiner Burgruine, sondern einer Villa am Mittelmeer gemütlich. Nun tourt er seit 30 Jahren mit Gastmusikern, die seine Söhne sein könnten, gibt alte und gelegentlich neue Songs zum Besten, scheinbar ohne Verlangen, sie auch auf Tonträger zu veröffentlichen. Was er den ganzen Tag mache, schreibt Mark Andrews, wisse niemand so genau. Wahrscheinlich spiele er mit Katzen, sehe sich fremdsprachige Filme im Original an, höre Cricket-Reportagen im Radio und trinke ein bisschen.

Vielleicht muss man sich Andrew Eldritch als glücklichen Menschen vorstellen. Oder sollte man Andrew Taylor sagen?

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