Könnte das Volkstheater in Wien singen, sänge es ein Klagelied. Kurz nach dem letzten Lockdown in Österreich sollte es nun endlich mit neuem Schwung wieder losgehen, aber Omikron wirft schon wieder seine dunklen Schatten voraus. Und noch vor der ersten Premiere im neuen Jahr, mit der sich das Haus am Mittwoch endlich mit viel fröhlichem Lärm um nichts, mit einer Sisi-Revue aus 99 Nummern, in das Gedächtnis der Stadt zurückkatapultieren wollte, standen die Angestellten schon wieder betrübt im Foyer: Die für den Donnerstag geplante Uraufführung des Jonathan-Meese-Projekts "Kampf-L.O.L.I.T.A" musste wegen eines Covid-Falls im Ensemble abgesagt werden. "Dabei war es so gut verkauft", stöhnt eine Mitarbeiterin.
Vor dem Besuch von Adolf Hitler wurde ein "Führerzimmer" eingebaut
Das Haus am Arthur-Schnitzler-Platz hat keine gute Presse, schon lange nicht mehr. Stattdessen mehren sich Berichte über den steten Niedergang. Das zweitgrößte Haus der Stadt hatte mal 1900 Sitzplätze, nun sind es immer noch mehr als 800. Einst als bürgerlicher Gegenentwurf zum kaiserlichen Burgtheater konzipiert, wurde es während der NS-Zeit in ein Theater der Deutschen Arbeitsfront umetikettiert und für einen Besuch von Adolf Hitler mit einem eigens eingerichteten "Führerzimmer" entweiht. Nach großen Zeiten in den Roaring Twenties und Mitte des vergangenen Jahrhunderts kämpft es heute ums Überleben und wird, nach einer langen und aufwendigen Generalsanierung, durch hohe Subventionen gesichert. Denn mit gerade mal 45 Prozent Auslastung und ein paar Hundert Abonnenten kann sich das Riesenhaus am Fuße des siebten Bezirks kaum über Wasser halten.
Die Pandemie und die deprimierenden Besucherzahlen selbst dann, wenn das Haus mal aufschließen konnte, führten überdies dazu, dass der 2020 aus Dortmund geholte Intendant Kay Voges sein Theater Wochen über die letzte Lockdown-Frist hinaus bis Anfang Januar geschlossen hielt. In Wien war man not amused. Zumal Voges schon mit den ersten Inszenierungen nach seiner Ankunft in Wien - viele waren es ja nicht, weil ständig Zwangspausen dazwischenkamen -, das zahlende Publikum nur bedingt überzeugt hatte. Es sei eh niemand gekommen, sagte Voges jetzt in einem ORF-Beitrag zu der Misere seines Hauses entschuldigend, und beklagte, verständlicherweise, dass das "Framing", mit dem das Volkstheater niedergeredet werde, ihm "überhaupt nicht gefalle". Sympathisierende Kulturkritiker mutmaßten in derselben Kultursendung, das, was Voges sich für das Volkstheater ausgedacht habe, sei den Wienern wohl nicht "wienerisch" genug." Voges beharrt darauf, dass er weiter "radikales, mutiges Gegenwartstheater" machen wolle.
Wenn keiner kommt, kommt Sisi. Schon wegen der Touristen
Aber es muss halt auch jemand zuschauen wollen. Nun - und vielleicht deshalb - kommt jetzt Sisi. Oder Sissi. Kaiserin der Herzen bis heute, werbewirksamer Mitnahmeeffekt für Touristen, Seelenfüller im Weihnachtsfernsehen, Possenhofens schönster Exportartikel. Offizieller Titel der Inszenierung: "Ach, Sisi - neunundneunzig Szenen. Eine Staatsaktion, ein Nichts, ein Volkstheater". Sisi geht eben immer.
Was der Abend wirklich will oder soll, weiß man am Volkstheater selbst nicht und macht aus der Not eine Tugend. Alles geht. Die mäandernde Programmankündigung zeigt das überdeutlich: "Sissi ist ein Heimatfilm. Sisi ist Romy Schneider, Sisi ist Habsburg und Habsburg ist Geschichte. Sisi ist ein Porzellanservice, Sisi ist österreichisches Wahrzeichen wie Sachertorte und Opernball. Sisi war Bayerin, also Südpiefkin. Sisi war ein Korsett, eine Totenmaske, Sisi war Modellathletin. Und sie ist ein Parfum, ein Kartenspiel, eine Praline, ein Fächer, ein Kühlschrankmagnet, eine Aufziehpuppe und eine Adelige. Sisi ist ein Wahrzeichen, ein Mythos, ein Silbertablett."
Sisi sei auserzählt, langweilig, heißt es zudem provokativ. Offenbar gilt das aber doch nicht, denn der Abend dauert knapp zweieinhalb Stunden lang, ohne Pause. Und, das vorweg: Dem Wiener Volkstheater, das sich hier in der Zuschreibung des Stücks zugleich zum Theater für das Volk deklariert, ist ein wunderbarer Abend gelungen. Komisch, grotesk, schräg, laut, wirr, klug, politisch, dämlich. Im Publikum wechseln sich die längste Zeit tosendes Gelächter und einzelne Kicherer ab. Er dürfte, und das hat vor allem das großartige Ensemble verdient, ein Renner werden. Einziges Monitum: Irgendwann geht der Inszenierung das Timing verloren. Die perfekt durchchoreografierte Schau verliert nach einer Weile den Fokus, bekommt Längen, und weil die Szenen mit einer digitalen Anzeige durchgezählt werden, stellt sich nach einer Phase der Überraschung und der Euphorie eine leichte Sorge ein: Jetzt sind sie bei Nummer 40, jetzt bei 45, und noch mal so viel kommt noch? Wäre die Inszenierung ein Buch, hätte die Lektorin im letzten Drittel entschlossene Kürzungen angeregt.
Dass das Timing aber, das für diese Form des gehobenen Slapsticks fundamental wichtig ist, die längste Zeit funktioniert, ist Regisseur Rainald Grebe zu danken, von Haus aus Comedian, Autor, Komponist und Sänger aus Köln. Einem Piefke also, der mit dem "Quatsch Comedy Club" bekannt geworden ist; ihn für die Quatsch-Comedy-Sisi-Nummernrevue nach Österreich zu holen, war eine glänzende Wahl. Er schickt die ungeheuer präzisen, gut gelaunten Schauspieler und Schauspielerinnen in einen Wirbelwind aus Lipizzaner-Training, Veilcheneis, Dauerwerbesendung, politische Aufklärung, Anarchismus, Hingabe, Haarfetischismus, Filmmuseum, psychiatrische Ferndiagnosen, Ungarisch-Unterricht und Franzl-Liebesschwüre. Der schrillen Schau wurden ein paar Gerüste eingezogen: Umrahmt wird sie von naiv fragenden Dudelradio-Moderatoren. Von Jürgen Lier optisch strukturiert wird die Szenerie durch eine hölzerne, mit Luken versehene Trennwand zwischen Vorder- und Hinterbühne, wo sich die Verhältnisse bisweilen umdrehen, weil das Ensemble dahinter eine Sisi-Schau aufführt und ein Inspizient davor Ruhe in den Ablauf zu bringen sucht. "Der nackte Wahnsinn" von Michael Frayn lässt grüßen. Und musikalisch begleitet wird das Ganze mit Gedichten der echten Kaiserin, vertont von Jens-Karsten Stoll, die das Ensemble bravourös auf die Bühne bringt.
Das prekäre Verhältnis zu den Deutschen wird per Einspieler erklärt
Und so wird gesungen und getanzt, lippensynchron eine Liebesszene aus dem Marischka-Film nachgespielt, es werden Wiener U-Bahn-Linien und Stadtbezirke analysiert, das prekäre Verhältnis zu den Deutschen wird per Einspieler erklärt, Sebastian Kurz kriegt auch was ab, und weil es so schön ist, dekliniert die pensionierte Wiener Beamtin Susanna Peterka ihre Männer durch, die sie nach dem Vorbild von Romy Schneider ausgesucht hatte. Andreas Beck, Anna Rieser, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Anke Zillich und Balázs Várnai bewältigen ihre zweieinhalbstündige Aufgabe mit Humor, Körpereinsatz und Grandezza. Vielleicht bringt die unglückliche, getriebene Elisabeth dem unglücklichen, getriebenen Volkstheater ja ein wenig Glück.