Eine nackte Frau fliegt fast senkrecht in den Himmel, mit weit geöffneten Armen, verzücktem Gesicht und gezücktem Messer. Im Hintergrund, ungefähr auf der Höhe ihrer behaarten Scham, erkennt man die Spitze des Empire State Building. Die kleine, beinahe naive, auf jeden Fall aber glückselige Zeichnung begleitet neben anderen Zeichnungen der Autorin den neuen Roman von Siri Hustvedt. Im gerade erschienenen Original heißt er "Memories of the Future", in der deutschen Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald "Damals". Der Rowohlt Verlag hat die Zeichnung, die am Ende des Romans abgedruckt ist, wie im amerikanischen Original aufs Cover gehoben, zusätzlich aber in ein orange unterlegtes, eiförmiges Passepartout gepackt. Das passt.
Siri Hustvedt, 1955 in Minnesota geboren und seit vielen Jahren in Brooklyn lebend, hat ein Werk geschaffen, dessen intellektuelle Brillanz eng mit einem umfassenden Konzept von Leiblichkeit verbunden ist. Auf verschiedensten Wegen hat sie erkundet, wie sich der Dualismus von Geist und Körper überwinden lässt. Dass er selbst in den Neurowissenschaften noch regiert, die dazu neigen, das Gehirn zum Subjekt zu erklären, statt es als Organ zu behandeln, zeigt sie in einem der komplexen und zugleich gut verständlichen Texte ihres Sammelbandes. "Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen" enthält "Essays über Kunst, Geschlecht und Geist" aus den Jahren 2011 - 2015.
Siri Hustvedt fährt schon lange zweigleisig, was ihr literarisches und ihr essayistisches Schreiben betrifft. Sie versteht den Roman explizit als "wunderbares Vehikel für neue Ideen". Das schreibt sie in "Die Illusion der Gewissheit", einem großen Essay über das Geist-Körper-Problem, der auf Deutsch schon 2016 erschienen ist - als eine Art Single-Auskopplung aus der amerikanischen Originalausgabe von "A Woman Looking at Men Looking at Women." Auch den Roman "Damals" sollte man als solch ein Vehikel betrachten, um Vergnügen daran zu haben.
Hustvedt liebt es, ihre intellektuellen Einsichten in verschiedenen Konstellationen durchzuspielen und auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen. Ihr letzter Roman, "Die gleißende Welt", war eine Art Performance in Romanform. An einer Louise Bourgeois nachgebildeten Künstlerin führte sie da vor, wie stark der Kunstmarkt immer noch von Männern und ihren Werken dominiert wird, die viel teurer gehandelt werden als die von Frauen.
"Damals" ist eine autofiktionale Selbsterkundung. Siri Hustvedt nimmt ihr junges Ich in Augenschein. Und sie spielt dabei Philosopheme durch, die sie seit Jahren beschäftigen. Zum Beispiel die Idee, dass es keine Erinnerung ohne Imagination gibt, und dass jedes Aufrufen einer Erinnerung diese zugleich modifiziert. Zumal sie an der jungen Frau, die sie selbst war, einiges verändert (die Anzahl der Schwestern, den Beruf des Vaters), kann sie sich also darauf verlassen, dass die hochgewachsene Dreiundzwanzigjährige, die im Sommer 1978 von Minnesota nach New York kommt, nicht mit ihr selbst identisch ist.
Im Lauf unseres Lebens werden wir jemand anderes. Was aber bleibt gleich? Gibt es einen inneren Kern, ein "körperliches, affektives, zeitloses Kernselbst", wie Siri Hustvedt das nennt? In welchem Verhältnis steht es zum "zeitlichen Selbst", wie es sich in der Narration und im autobiografischen Gedächtnis artikuliert?
Hustvedt wird schon mal gefragt, ob sie ihre Fachkenntnisse von ihrem Mann hätte
Hustvedt arbeitet an einer weiblichen Sicht der Wissensgeschichte, in der be-stimmte Phänomene bisher unterbelichtet sind. Beispielsweise die Tatsache, dass der Mensch sein Leben eben nicht in heroischer Einsamkeit beginnt, wie die Philosophiegeschichte glauben machen will, sondern im Leib der Mutter und nach der Geburt in ständiger, zunächst nonverbaler Zwiesprache mit ihr oder einem nahen anderen.
Die Plazenta als übersehenes Organ hat vor ihr schon Peter Sloterdijk im ersten Band seiner "Sphären"-Trilogie entdeckt. Dort ist sie das erste taktile Gegenüber in der embryonalen Entwicklung, das gemeinsam mit dem werdenden Säugling in der Resonanzblase des Uterus schwebt, in der die Bewegungen und Geräusche des Mutterleibs die erste Erfahrung einer geschützten Sphäre bilden. Von seiner bisher größten philosophischen Entdeckung ist Sloterdijk mittlerweile weit abgedriftet.
Eine Schriftstellerin wie Siri Hustvedt hat dagegen stärkere Gründe, das Konfliktfeld zwischen Resonanzphänomenen und Geltungsbedürfnissen als unteilbares Terrain zu betrachten. Sie ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet. Und es kann ihr schon mal passieren, dass sie auf einer Abendgesellschaft gefragt wird, ob sie ihre profunden Kenntnisse in Neurologie ihrem Mann zu verdanken habe. Oder dass der Schriftstellerkollege Karl Ove Knausgård auf offener Bühne zu ihr sagt, Frauen seien "keine Konkurrenz".
Hustvedt gehört zu den wenigen Menschen, die sich aus eigenem Antrieb einen interdisziplinären Überblick über verschiedene Fachgebiete erarbeitet haben. Seit ihrem Buch "Die zitternde Frau. Die Geschichte meiner Nerven", in dem sie quer durch unterschiedliche Forschungsgebiete dem merkwürdigen Zittern auf die Spur kommen wollte, das sie zum ersten Mal im Mai 2006 bei einer Gedenkrede auf ihren zwei Jahre zuvor gestorbenen Vater ergriff, wird sie als Vortragende zu neurologischen und psychiatrischen Fachkongressen eingeladen. Auch "Damals" ist ein Mosaikstein in der Geschichte ihrer Wissbegierde - und zugleich ein Roman über männliche Herablassung und Gewalttätigkeit.
Von wenigen Zeitsprüngen bis in die Gegenwart der Trump-Ära abgesehen, spielt "Damals" in der Spanne eines guten Jahres, von August 1978 bis September 1979. Die aufs damalige "Jetzt" konzentrierte Geschichte ist angelegt wie eine Guckkastenbühne, deren Komplexität zunimmt. Das kann man sich wie Louise Bourgeois' "Cells" vorstellen. In gewisser Weise ist sie ganz von innen heraus erzählt, wohl mit dem Blick der älteren Frau auf ihr junges Ich, aber im Versuch, die Innenwelt einer Frau nachzubilden, die aus dem ländlichen Minnesota ins Abenteuer New York aufbricht. Ihr Stipendium hat sie um ein Jahr verschoben, um ihren ersten Roman zu schreiben, eine Detektivgeschichte um zwei Jugendliche, die sie niemals abschließen wird. Lebt die junge S. H., wie die Erzählerin ihren Namen abkürzt, zunächst alleine in ihrem Appartement und belauscht die Stimme ihrer Nachbarin, die offenbar Schlimmes hinter sich hat, so verwandelt sich das akustische Höhlengleichnis bald in ein Porträt der jungen Frau inmitten der intellektuellen und erotischen Verlockungen New Yorks Ende der 70er-Jahre.
Bei einer Lesung des näselnden John Ashbery lernt sie Whitney kennen, eine Künstlerin und Dichterin, die sie auch in andere "Privaträume" führt. Schnell erweitert sich ihr Radius, schon geht es in Galerien, zu Vorlesungen, die Nächte tanzt sie im Studio 54 und in anderen Clubs durch. Koks kommt nicht infrage, Alkohol ebenso wenig. Sie hat nicht einmal genug Geld, um sich Essen zu kaufen. Aber sie ist jung und neugierig, und sie hat wie ihre Freundin das natürliche Selbstvertrauen einer Frau, die sich sicher ist, dass die Welt auf sie wartet. Zunächst sind es vor allem die Männer. Meist starren sie auf ihren Busen, wenn sie spricht. Und irgendwann begreift sie, vielleicht auch nur durch das Bewusstsein ihres älteren Ichs, dass sie nicht wirklich an ihrem Intellekt interessiert sind, sondern an ihrem Körper.
Das wilde, rohe Glücksgefühl eines Springmessers gegen die Hilflosigkeit
Ihre Liebhaber schwadronieren über Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari und es ist selbstverständlich für sie, sich in die Bücher zu vertiefen. Aber seltsam, umgekehrt interessieren sich die an den Lippen Paul de Mans hängenden, von Batailles Überschreitungsgesten faszinierten Heroen überhaupt nicht für das, was sie interessiert.
Schließlich kommt es zu einer Beinahe-Vergewaltigung in ihrer Wohnung. Weil sie den Mann, von dem sie nur den Vornamen kennt, nicht demütigen will, lässt sie sich Stufe für Stufe von einer Party heimbegleiten. Erst ins Taxi, dann bis zur Haustür und schließlich bis zur Wohnung - und schon ist er drin. Auf ihre Bitte, wieder zu gehen, reagiert er nicht. "Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert." Wochenlang geht ihr das Erlebnis nach. Erst als sie die "verbalen Waffen" gegen ein Springmesser tauscht, fühlt sie sich wieder sicher. Es beschert ihr ein "wildes, rohes, gefährliches Glücksgefühl". Offenbar ist es das Messer, das die Frau auf dem Cover verzückt in den Himmel reckt.
Nicht nur in ihren Romanen, auch in ihren Essays vertritt Siri Hustvedt eine Weltsicht, in der die Leiblichkeit des wahrnehmenden und denkenden Subjekts die Voraussetzung für jede Art von Intelligenz und Kreativität ist. Dabei kombiniert sie die Erkenntnisse der Phänomenologie mit neurowissenschaftlichen Forschungen. Über Molekulargenetik und Epigenetik denkt sie ebenso nach wie über die Tatsache, dass Emotionen niemals fiktiv sein können, auch wenn wir sie empfinden, während wir ein fiktives Werk lesen. In den Debatten über künstliche Intelligenz ist ihre Position klar: gleichgültig, mit wie vielen Daten man vernetzte Rechner oder humanoide Roboter füttert, sie bleiben ein "armseliges Gerät", das Gefühle zwar vortäuschen, aber nicht empfinden kann.
In seinem neuen Buch "Die Mechanik der Leidenschaften" über den Aufstieg der kognitiven Neurowissenschaft seit den 1990er-Jahren widmet der Soziologe Alain Ehrenberg Siri Hustvedts neurologischer Selbsterkundung ein eigenes Kapitel. "Die zitternde Frau" ist womöglich ihr wirkmächtigstes Buch: eine Verbindung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften, die durch den eigenen Körper verläuft.