Süddeutsche Zeitung

Sinthujan Varatharajah: "an alle orte, die hinter uns liegen":Eine Art Gefangenschaft

Sinthujan Varatharajah schreibt in einem essayistischen Memoir eindrucksvoll gegen das Einebnen aller Unterschiede jenseits des Europäischen an.

Von Julia Werthmann

Es heißt nicht ohne Grund: in Erinnerungen graben. Erinnern ist ein archäologisches Unterfangen. Verkrustete Schichten werden aufgebrochen und Verschüttetes tritt zu Tage. Den roten Faden der Erinnerung in Sinthujan Varatharajahs essayistischem Memoir "an alle orte, die hinter uns liegen" bildet eine alte Fotografie. Andeutungsweise ist auf ihr der Kopf von Varatharajahs Mutter zu erkennen. Gemeinsam mit ihr blickt der Leser auf drei Elefanten im Münchner Zoo der Neunziger.

Varatharajah gräbt von dort in den mit der tamilischen Familiengeschichte verwobenen Tiefenschichten der Kolonialgeschichte. Wie die Elefanten, so wurde auch die sie betrachtende Familie ihrer Umgebung entrissen. Wegen des Völkermords an der tamilischen Minderheit im Bürgerkrieg des vom Kolonialismus gezeichneten Sri Lankas floh sie in den Achtzigern nach Bayern. Varatharajah erblickte in einer unbenannten Asylunterkunft, in der die Familie Jahre ausharren musste, das Licht der Welt.

Auch die Fotografie diente den Kolonialherren als Waffe der Unterwerfung

Heute lebt, schreibt und forscht Varatharajah in Berlin zu politischer Geografie. Ungeahnt faszinierend ist der Stil des Buchs, eine Mischung aus theoretischen Verweisen, autoethnografischer Perspektive und geologischer Sprache. Die westliche Macht, gegen die das Buch anschreibt, wird im Ordnungszwang erkannt: "Ich denke daran, dass auf einer Karte markiert zu sein, entdeckt worden und sichtbar zu sein, auch eine Art Gefangenschaft bedeuten kann." Das bezeuge eine Sprache, die alles aus europäischer Perspektive benenne, oder eine wissenschaftliche Dokumentationsmaschinerie, die das in den Kolonien Gesehene objektifiziert und, seiner Geschichte beraubt, der ökonomischen Ausbeutung preisgegeben habe.

Auch die Fotografie habe den Kolonialherren als Waffe der Unterwerfung gedient. Wahlweise um die Einheimischen als "wilde Andere" oder Zivilisierungserfolge zu inszenieren. Das Recht am Abbild lag stets in den Händen der Europäer. Doch als Varatharajahs Vater 1977 eine Kamera erwirbt und beginnt, seine Familie abzulichten, eignet er sich die Bildmacht an: "Mit jedem Abbild von sich selbst wuchs ihr Selbstverständnis an diesem Ort, in dieser Gesellschaft, in diesem Leben auf dieser Erde."

Das Buch versucht die Linie der Ermächtigung weiterzuzeichnen, indem der Blick auf jene gerichtet wird, die historisch die Blickrichtung vorgaben, scheinbar unsichtbar hinter den Kameras standen. Diese Verschiebungsabsichten prägen den Text auch sprachlich, wenn gängige Himmelsrichtungen oder Ländernamen kursiv geschrieben oder binäre Personenbezeichnungen gemieden werden.

Wie die Ironie es will, hat die Rezeption des Buches seine These inzwischen übrigens bestätigt. So wurde in einer Rezension des Spiegels aus Sinthujan Varatharajah und dem ebenfalls schreibenden Bruder Senthuran eine Person. Da ist es wieder gewesen, das Einebnen der Unterschiede jenseits des Europäischen, das das Buch anklagt. Wer dagegen bereit ist, in die von Varatharajah ausgebreiteten Archive zu blicken - der kann lernen, ungesehene Facetten wahrzunehmen.

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