Literatur:"Ich erinnere mich an ein Gefühl von Ausgeliefertsein"

Alina_Herbing -- Pressematerial, nur im Zusammenhang mit dem Buch 'Niemand ist bei den Kälbern'

Alina Herbing, Autorin: "Ich habe damals schon auch mitgetrunken. Aber ich wusste: Ich darf es nicht übertreiben. Ich wollte ja weg."

(Foto: Anikka Bauer/PR)

Von wegen Landlust und Idylle: In ihrem Debütroman "Niemand ist bei den Kälbern" räumt Alina Herbing gnadenlos mit dem romantischen Image des Landlebens auf.

Von Kathleen Hildebrand

Wenn, und das passiert gern, mal wieder darüber gespottet wird, dass die Zeitschrift Landlust eine höhere Auflage hat als der Spiegel, dann wirft man den Menschen, die dieses Heft kaufen, vor allem eines vor: Eskapismus. Dass sie lieber Mirabellenmarmelade einkochen, als sich mit politischen Krisen zu beschäftigen, und lieber vom Schreinern einer urigen Sitzbank träumen, als kapitalismuskritische Schriften zu lesen.

Dass sie die Städte, in denen die Zeitschrift gekauft wird, verlassen wollen, um in Scharen die entsiedelten Landstriche der Republik zu überschwemmen, das glaubt keiner. Man liest Hefte wie dieses eben vor allem auf dem Sofa im Wohnzimmer einer städtischen Wohnung. Wirklich raus aufs Land ziehen so wenige, dass sie in ebendiesen Heften einzeln porträtiert werden - beim Mirabellenkochen und Bänke Schreinern. Die Städte wachsen, während der ländliche Raum Einwohner verliert.

Gemütlich? Ein vom Mähdrescher zerhäckseltes Rehkitz zu Romanbeginn

Wer wissen will, was dieses Phänomen für Gründe hat - natürlich neben besseren Jobaussichten in den Städten, besserer Infrastruktur und einem breiteren Kulturangebot - der sollte Alina Herbings Debütroman "Niemand ist bei den Kälbern" lesen, der gerade im Arche-Verlag erschienen ist. Einen hintergründigen Anti-Landlust-Roman, der gleich auf der ersten Seite klarstellt, dass auf den restlichen 248 keinesfalls gemütlich Marmelade eingekocht werden wird: Ein Mähdrescher zerhäckselt ein Rehkitz. Die Protagonistin findet kurz darauf dessen Ohr im Gras. Sie beschreibt das halb berührt, halb kühl: "ein winziges Ohr, völlig heil, als könnte es noch hören und wackeln und alles. Mir wird schlecht."

Alina Herbings Hauptfigur und Erzählerin ist die etwa 20-jährige Christin - abgebrochene Frisörlehre, Alkoholiker-Vater, ohne Plan für ihr Leben - die in einem Kaff mit dem sprechenden Namen Schattin lebt. Den Ort gibt es wirklich, er liegt ein paar Autominuten entfernt von Alina Herbings winzigem Heimatort: Schlagsülsdorf, eine halbe Stunde östlich von Lübeck im Landkreis Nordwestmecklenburg.

Von Wegen Eintönigkeit - Alle paar Seiten stockt einem der Atem

Herbing beschreibt in ihrem Roman, was es mit einem jungen, sehr heutigen Menschen macht, wenn er zwischen nichts als leeren Feldern aufwächst, auf denen versprengt Windräder stehen. Denn durch das Internet, so langsam es auf dem Land auch sein mag, ist das gute, also das glamouröse Leben, sehr viel näher gerückt. Auf Lifestyle-Seiten sieht Christin ein ganz anderes Leben als das, das sie führen muss - ständig pleite und auf dem Hof ihres Freundes Jan von dessen Vater nur gerade so geduldet. Sie liest zum Beispiel, dass der Sommer-Drink des Jahres "Ginwer" heißt. Die Zutaten dafür sind im Dorfsupermarkt nicht zu bekommen.

Der Roman spielt in einem heißen Sommer, in dem Christin so ziellos wie brutal gegen die Eintönigkeit ihres Daseins rebelliert. Weil sie nicht weiß, wie sie wegkommen soll aus Schattin, beginnt sie, ihre Umgebung zu sabotieren. Mit einem beiläufig durchgeschnittenen Traktorkabel fängt es an und endet mit sehr viel Schlimmerem. Christin lügt, betrügt und trotzdem kommt man nicht umhin, sie zu mögen und zu verstehen. Wie Alina Herbing die Tristesse dieses Mecklenburger Hinterlands beschreibt - die Dorffeste, die Fliegenfänger in jedem Raum, schwarz vor Insektenleichen, Jans Sorge über sinkende Milchpreise - das ist so glasklar und unterschwellig bedrohlich, dass einem alle paar Seiten der Atem stockt.

Dem Heimatort ausgeliefert sein

Literatur: Die Schönheit der einsamen Natur, die Freuden des ursprünglichen Lebens, die Beschaulichkeit der kleinen Lebensorte: alles relativ, wenn es nicht selbstgewählt ist.

Die Schönheit der einsamen Natur, die Freuden des ursprünglichen Lebens, die Beschaulichkeit der kleinen Lebensorte: alles relativ, wenn es nicht selbstgewählt ist.

(Foto: Robert Fishman/imago)

Als Alina Herbing an einem Wintervormittag am Berliner Hauptbahnhof in den ICE nach Hamburg steigt - denn natürlich muss man mit ihr in ihr Heimatdorf fahren, um über den Roman zu sprechen - verwirft man den Gedanken schnell, Christin könne ihr jugendliches Ich sein: lange blonde Haare, sanfte Stimme, Perlenohrringe. Die raue Jugend an der Provinz-Bushaltestelle sieht man der 32-Jährigen nicht an. Dabei war genau das ihre Realität - inklusive Wodka, Korn und Alkopops. Sie sagt: "Wo soll man auch sonst rumhängen auf dem Land?"

Während draußen die kalte, graubraune Winterlandschaft vorbeizischt, erzählt Alina Herbing im Bordbistro von ihrer Provinzjugend: Als Kind sei das ja alles noch ganz schön gewesen. "Wir hatten viele Tiere, konnten einfach rumspielen. Im Wald, am Dorfteich. Im Winter sind wir darauf Schlittschuh gelaufen."

Aber es wird schnell klar, was Eltern gern vergessen, wenn sie den Kindern zuliebe raus aufs Land ziehen: Wirklich toll ist das nur, bis sie in die Schule kommen, vielleicht gerade noch bis zur Pubertät. Danach kommt der Frust. "Ich erinnere mich an ein Gefühl von Ausgeliefertsein", sagt Alina Herbing. "Man musste immer bei den Eltern betteln, um irgendwohin gefahren zu werden. Ich habe meinen Eltern oft vorgeworfen, dass sie mich hier rausgebracht haben."

Lieber mit Neonazis feiern, anstatt Nichts zu tun

Als sie sieben Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit ihr und ihren drei Geschwistern aus Lübeck knapp hinter die gerade gefallene Grenze nach Schlagsülsdorf. Dort gibt es: einen Teich, drum herum fünf Häuser, einen Milchviehhof, eine Bushaltestelle. Jetzt im Winter sind die Büsche vor den Häusern kahl, die Felder struppig vom Raureif. Aber die sanften Hügel, der weite Blick: Man ahnt, dass diese Landschaft im Sommer den Eindruck von Idylle erwecken kann. Die Häuser hier waren günstig, die Nachbarn beinahe exotisch. Die Herbings kamen aus dem Westen in den damals noch sehr spürbar anderen Osten.

Die Fremdheit, die Einsamkeit - all das legte sich für Alina Herbing nie. Mit sieben im Schulbus fing es an, als ihre Klassenkameraden Kinder von Asylbewerbern beschimpften. Sie fand das falsch, ihre Eltern hatten sie anders erzogen. Später unterschieden Alina Herbing und ihre Freunde "Glatzendörfer" und "Zeckendörfer". Zu den Dorffesten und Discoabenden, auf denen auch Neonazis waren, ging sie trotzdem. "Sonst hätte ich nichts machen können." Im Roman stürzt Christin ein Sixpack Kleiner Feigling, wenn die Einsamkeit allzu groß wird. "Ich habe schon auch mitgetrunken", sagt Herbing. "Aber ich wusste: Ich darf es nicht übertreiben. Ich wollte ja weg."

Das hat sie geschafft. Heute lebt Alina Herbing in Berlin, dem großen Auffangbecken junger Provinzflüchtiger. Sie hat Germanistik und Geschichte studiert, später kreatives Schreiben in Hildesheim. Ihr Geld verdient sie mit Deutschkursen, unter anderem für Flüchtlinge.

Ihr Blick auf ihre Heimat ist ein anderer geworden, er kommt jetzt von außen, gerade auch durch die Arbeit an ihrem Roman. Alina Herbing zieht die Tür des Mietwagens zu, mit dem man von Lübeck nach Schlagsülsdorf gekommen ist. Draußen auf dem Feld ist es zu kalt zum Reden. Gibt es Hoffnung für das Landleben? "Ja", sagt sie, vor allem durch den Zuzug aus den Städten, den es trotz allen Bevölkerungsschwunds gibt. "Da gibt es dann plötzlich Kunst auf dem Dorf und Weidenflechtkurse. Jemand eröffnet ein Café oder einen Hof, auf dem vom Aussterben bedrohte Haustierrassen gezüchtet werden. Auch der Tourismus ist eine große Chance. Dadurch kommen Impulse aufs Dorf."

"Junge Männer auf dem Land sagen nicht: Ich werde Masseur. Das ist zu uncool."

Doch darauf muss man sich einlassen können. Weil auf dem Land die Geschlechterrollen oft noch traditioneller sind, sei das vor allem für die Männer schwierig, sagt Herbig. "Auf dem Land sollen sie harte, kräftige Typen sein, die ihre Familie ernähren. Das setzt ganz schön unter Druck. Vor allem, wenn die Landwirtschaft an Bedeutung verliert." Diese Stereotypen stünden ihnen im Weg: "Junge Männer sagen nicht: Ich werde Masseur. Das ist viel zu uncool. Frauen können sich besser anpassen." Oder sie gehen weg. In Österreich gibt es Dörfer, in denen bis zu 40 Prozent mehr junge Männer leben als Frauen.

"Halt, hier musst du anhalten", ruft Alina Herbing plötzlich, kurz bevor die Tour um Schlagsülsdorf zu Ende geht. "Die Nandus!" Neben der Straße pickt eine Herde grauer, straußenartiger Vögel im Feld herum. Sie tauchen auch in Herbings Roman auf, als eine Art wiederkehrende, exotische Fata Morgana - halb Hoffnung, halb Gefahr, genau wie Christins Sehnsucht nach einem anderen Leben weit weg von Schattin. Die Nandus sind eine südamerikanische Vogelart, vor Jahren sind sie aus einer Farm hier in der Gegend entwischt, heute leben sie wild in den Waldstücken zwischen den Feldern und picken den Bauern das Saatgut von den Feldern. Den Nandus gefällt es hier.

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