Klassik:Letzte Dinge

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Simon Rattle probt in München in der "musica viva" des bayerischen Rundfunks. (Foto: Astrid Ackermann)

Simon Rattle zeigt, dass er im Alter auf Gottsuche geht - und dass für das Orchester des BR eine neue Zeit anbricht.

Von Reinhard J. Brembeck

"Aus tiefster Not schrei ich zu dir" und "De profundis clamavi": Klassische Musik hat sich in ihrer gut tausendjährigen Geschichte gern in Katastrophen verliebt, in Grenzgängereien, Verzweifelungen, Leichenphantasien. Zu Beginn dieses Jahres wurde Dirigent Simon Rattle, der Ex-Chef der Berliner Philharmoniker, als neuer Leiter von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks (BR) ab 2023 verkündet, und jetzt musizierte er gleich vier todessüchtige Sinnsuchestücke mit seinen Zukünftigen, passend sowohl zur die Menschheit würgenden Seuche als auch zur Fastenzeit. An einem Abend trat er erst in der Gasteig-Philharmonie, dann im Herkulessaal auf und kombinierte dabei eine Uraufführung mit Barockem von Henry Purcell und zwei modernen Klassikern von Olivier Messiaen und Georg Friedrich Haas. Ohne Publikum, aber live abgefilmt für die Website des Orchesters und dort abrufbar.

Ondřej Adámek, geboren 1979 in Prag, ist als Komponist ausnehmend erfolgreich. Sein jetzt von Mezzosopranisten Magdalena Kožená, den BR-Leuten und Rattle erstaufgeführter elfteiliger Liederzyklus "Where are You?" zeigt warum. Adámek kombiniert gern die treibende Rhythmik der minimal music mit experimentellen Mitteln wie stoßweisem Atmen oder Ins-Instrument-Hauchen, er greift auf Volksmusik-Patterns und Formeln zurück. Er meidet romantisches Pathos genauso wie esoterisch versponnene L`art-pour-l`art-Gespinste. So bleibt Adámeks Musik in jedem Moment verständlich und zielgerichtet, zumal er immer einen altmodisch humanistischen Kern in seiner Musik umkreist. So auch in "Where are You?" das zweifelnde, aber letztlich hoffnungsfrohe Gottessuche ist, die in der durch Schlichtheit, Emotionalität und Tiefe überwältigenden Mystikerin Teresa von Ávila ihren Anker und ihr Zentrum hat.

Die Mezzosopranistin Magdalena Kožená bei der Uraufführung von Ondřej Adámeks Gottessinnsuchestück "Wher are You?". (Foto: Astrid Ackermann)

Wo Ondřej Adámek eine mystische Gottsuche betreibt, ist der Katholik Olivier Messiean immer dabei, seinen heiter sich verströmenden Glauben in den schillerndsten Klangfarben und Rhythmen aufzubereiten. Auch in dem exzeptionellen Auferstehungs-Fünfteiler "Et expecto resurrectionem mortuorum", der mit dem eingangs erwähnten Psalm 130 beginnt, Luther übersetzt: "Aus der tieffen / Ruffe ich HERR zu dir." Das Stück beschäftigt nur Blechbläser und Schlagwerker, was dem Klang etwas Archaisches verleiht, viel Jenseitsweltliches und Unabweisbares. In dieser zerklüftet unbedingten Klangunterwelt zeigt sich Rattle noch ein Stück stärker engagiert als in Adámeks immer wieder ins Zarte, Intime, Folkloristische ausweichendem Liederfolge. Rattle und Messiaen interessieren aber nicht so sehr das Unumkehrbare des Todes, sie konzentrieren sich ganz auf die sich hier herausmeißelnde Auferstehungserwartung, die sich wider alle Logik und Wissenschaft Bahn bricht. Rattle, das ist neu, zeigt im Alter zunehmend ein Faible für Religiöses und Mystisches.

So auch in Henry Purcells "Funeral Music of Queen Mary", eine von einem fahlen Trauermarsch eingerahmte Threnodie, in der Rattle und der BR-Chor ein romantisches Übermaß an Zerrüttung, Zerknirschung und Zartheit, aber auch an Gotteszuversicht zeigten. Die "musica viva", in der dieses Doppelkonzert stattfand, ist eine weltberühmte und ganz auf die Moderne spezialisierte Konzertreihe des BR. Schon der bereits vor 30 Jahren gestorbene Messiaen ist in der Musica-viva-Programmatik ein Fremdkörper, erst recht der 1695 gestorbene Purcell. Aber wollte man dieses Meisterstück in dieser grandiosen Aufführung deshalb in diesem Rahmen missen? Sicher nicht. Erst recht, weil Rattle nach wie vor immer ein wenig unangepasst gegen jeden Mainstream der Klassik steht, auch gegen die Hardcoretendenzen der Avantgarde.

Den Abschluss machte dann "in vain", eine einstündige Trauer- und Traummusik des ebenfalls nicht so recht in den Avantgarde-Mainstream passenden Georg Friedrich Haas. Das zur Jahrtausendwende erstaufgeführte Stück für nur 24 Spieler ist längst ein viel gespielter Klassiker. Zwei große Passagen, die zu Beginn und gegen Ende in völliger Dunkelheit gespielt werden und in der Münchner Aufzeichnung durch eine Infrarotkamera deutlich gemacht werden, tragen zum Ausnahmeruf dieses Stück bei, genauso die finalen Lichtblitze und riesige finale Abstieg der Tonleitern. Ein schier endloses Klangband voller Haltetöne, Mikrotonalität, Schleifbewegungen und Naturtonklängen nimmt die Hörer mit auf eine psychedelische Weltraumreise. Wohin? Vermutlich zum Wesen des eigenen Ich, zu Sinn des Lebens. Jedenfalls ist man nach jeder Aufführung von "in vain" und auch jetzt wieder nicht geneigt, weniger pathetisch und weniger umfassend auf diese Frage zu antworten. Adámek, Messiaen, Purcell, Haas: Rattle hat mit diesem überwältigend gespielten Ausnahmeprogramm klar gemacht, dass mit ihm eine neue Ära bei den BR-Musikern beginnen wird.

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