Süddeutsche Zeitung

"Silence" im Kino:Erst Christus, dann Judas

Martin Scorsese hat sein Herzensprojekt verfilmt: den Roman "Silence" über die brutale Jagd auf Christen im Japan des 17. Jahrhunderts. Es ist ein Lehrstück über die Gefahren des religiösen Fundamentalismus geworden.

Filmkritik von David Steinitz

Wie bringt man einen Menschen dazu, alles zu verraten, woran er jemals geglaubt hat?

In seinem Film "Silence", der während der brutalen Christenverfolgung im Japan des 17. Jahrhunderts spielt, erzählt Martin Scorsese vom portugiesischen Jesuitenpater Ferreira (Liam Neeson), der in die Fänge der lokalen Religionswächter gerät, die sich diverse Foltermethoden ausgedacht haben, um Missionaren aus Europa ihren Glauben auszutreiben.

Die schlimmste heißt "ana-tsurushi", Grubenfolter. Der Körper des Opfers wird von einem Galgen mit dem Kopf nach unten in eine Grube gehängt, und damit es nicht zu einem schnellen Tod durch Blutstau kommt, wird der Gefangene hinter den Ohren eingeritzt, sodass ein bisschen Blut und damit Druck entweichen kann. Wer diese Schmerzen kopfüber im Schlamm baumelnd ein paar Stunden oder gar Tage aushalten muss, der macht alles, was seine Peiniger verlangen - Pater Ferreira schwört zu Beginn des Films von seinem Glauben ab.

Das mag ein bisschen nach einer exotischen Horrorerzählung aus alter Zeit klingen, aber die Geschichte dieser erzwungenen Apostasie stellt Fragen über Religion und Fundamentalismus, die weder fern noch exotisch sind. Weshalb Scorsese, der sich mit "The Wolf of Wall Street" zuletzt noch im Spekulanten-Slapstick ausgetobt hatte, sie unbedingt verfilmen wollte.

"Silence" beruht auf dem Roman "Schweigen" des verstorbenen japanischen Schriftstellers Shūsaku Endō. Das Buch erschien 1966, der Autor griff darin die wahre Geschichte des gequälten Paters in der Grube auf, die er dann fiktiv weiterverarbeitete.

Zwei junge portugiesische Pater geraten in den Glaubenskrieg

Seine Idee: Die Kunde vom Missionar, der Gott widerrufen hat, dringt bis nach Europa vor und sorgt in der katholischen Kirche für einen Skandal. Denn Ferreira soll nicht nur Gott verleugnen, sondern sich buddhistischen Studien widmen und geheiratet haben.

Was, wenn sich andere Zweifler dem Abtrünnigen anschließen? Zum Zeitpunkt der Affäre sind fast alle Christen aus Japan geflohen, die letzten tapferen leben heimlich und in ständiger Todesangst, verstreut auf ein paar arme Bauerndörfer.

Zwei junge portugiesische Pater, die von den amerikanischen Jungstars Andrew Garfield und Adam Driver gespielt werden, wollen die Gerüchte nicht glauben. Sie kennen Ferreira von früher und beschließen, ihn zu suchen. In Lissabon schiffen sie sich ein und segeln über Indien und China nach Japan - wo auch sie in den Glaubenskrieg hineingeraten.

Für sein Herzensprojekt brauchte Scorsese drei Jahrzehnte

Scorsese las die Romanvorlage zum ersten Mal, als er sich Ende der Achtzigerjahre auf die Dreharbeiten zu "Die letzte Versuchung Christi" vorbereitete. Die Lektüre war ein solch prägendes Erlebnis für den Regisseur, dass er das Buch sofort verfilmen wollte, auch wenn die Geschichte alles andere als ein glamouröser Hollywoodstoff ist. "Schweigen", schreibt Scorsese im Vorwort zu einer neueren Auflage des Romans, "hat mir auf eine Weise Halt gegeben, wie ich ihn bisher in nur sehr wenigen Kunstwerken fand."

Aber obwohl das Buch zu seinem Herzensprojekt wurde, dauerte es knapp drei Jahrzehnte, bis er es verfilmen konnte, woran vor allem sein damaliges Projekt "Die letzte Versuchung Christi" schuld war. Auch in diesem Film setzte er sich mit dem christlichen Glauben auseinander, aber ein bisschen anders, als die katholische Kirche das gern gehabt hätte.

Scorsese zeigte Jesus als neurotischen Psychotiker, der sich von einem blond gelockten Teufelsengel vom Kreuz holen lässt, weil er kein Märtyrer sein will. Auch wenn die "Versuchung" gar nicht als Kritik an der Kirche gedacht war, sondern als Versuch, Jesus als zerrissene Figur im Kampf zwischen menschlichen Emotionen und göttlichem Auftrag zu interpretieren, löste der Film einen Skandal aus.

Tausende Gläubige protestierten vor den Kinos und hetzten gegen den Regisseur und sein Filmstudio. Weshalb Scorsese lange niemanden fand, der ihm "Schweigen" finanzieren wollte. Jeder Produzent in Hollywood bekam Panik, sobald er die Worte Scorsese und Kirche in einem Atemzug hörte - bitte keine Fehde mit zahlenden Katholiken, von denen es ja doch nicht ganz wenige gibt.

Dabei war die "Versuchung" gar kein Sonderfall im Werk des Regisseurs. Die Themen Glaube, Zweifel und Fanatismus sind schon immer der Kern seiner Filme gewesen, auch der "Taxi Driver" ist eine Art alttestamentarische Figur, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnt und Gott herausfordert.

Der Ursprung dieser Gottesfaszination liegt in Scorsese Kindheit im Stadtviertel Little Italy. Der kleine Marty war schwer beeindruckt von den Priestern in ihren prächtigen Roben, vor denen sogar die Mafiosi den Hut zogen.

Diese Begeisterung hätte beinahe dazu geführt, dass er kein Regisseur, sondern Geistlicher geworden wäre, kurzfristig besuchte er sogar ein Priesterseminar in der Upper West Side. Der zölibatären Ausbildung setzte dann eine junge Dame ein jähes Ende, wofür man ihr als Kinofreund gar nicht genug danken kann - aber Glaubensfragen blieben Scorseses künstlerische Obsession.

Dass es so lange gedauert hat, bis er "Silence" nun doch noch verfilmen konnte, ist aber vielleicht gar nicht so schlecht. Denn der Roman gibt einen schwierigen Balanceakt zwischen Religionskritik und christlichem Glaubensbekenntnis vor.

Gott schweigt zu den Gebeten

Verpackt in die komprimierte, plakative Form eines Kinofilms kann daraus schnell selbst ein Missionierungswerk werden, auch wenn die Geschichte die christlichen Bekehrungsmissionen hinterfragt. Aber der mittlerweile 74-jährige Filmemacher hat durch "Die letzte Versuchung Christi" das Provokationspotenzial solcher Storys leidvoll genug studieren können - und er ist mittlerweile in einer Altersform, in der es quasi unmöglich scheint, dass ihm ein Film ernsthaft misslingen könnte.

Während ein großer Teil des Buchs die zermürbende Reise der Padres nach Japan behandelt, konzentriert sich Scorsese auf den Leidensweg der beiden in der Fremde. Pater Rodrigues (Andrew Garfield) und Pater Garpe (Adam Driver) können sich mit ihren Priesterbärten und den Kutten nicht öffentlich zeigen. Sie müssen sich in einem Dorf an der windgepeitschten Küste verstecken, wo eine kleine Bauerngemeinschaft sie unter permanenter Angst vor den Christenjägern aufnimmt. Die Bauern sind selbst katholisch, heimlich, und sie sind glücklich, dass ihnen jemand die Beichte abnimmt und die Neugeborenen tauft.

Trotzdem kommt es bald zum Verrat, die Padres werden voneinander getrennt. Der Großteil der Handlung wird aus Rodrigues' Sicht erzählt, der sich auf seinem ganz persönlichen Kreuzweg wähnt. Gott schweigt zu seinen Gebeten und steht ihm nicht bei, als er schließlich in die Fänge der Behörden gerät und inhaftiert wird. Als er gefesselt auf einem Esel durch die Dörfer getrieben wird, bespuckt und mit Steinen beworfen, glaubt er sich endgültig in einer Christus-Rolle - wird von den Japanern aber schnellstens zum Judas umerzogen.

Ohne die Farbenlust, die Scorseses Filme sonst so oft prägt

Die ideologische Verbohrtheit beider Parteien, der christlichen wie der japanischen, übersetzt Scorsese in kalte und trostlose Bilder, mit denen er diese Geschichte in der kargen Küstenlandschaft erzählt, ganz ohne die dekadente Farbenlust, die seine Filme sonst so oft prägt.

"Silence" ist ein Lehrstück über die Gefahren jeder Religion, weil die Grenze zwischen Glaube und Fundamentalismus von allen Richtungen her schnell überschritten wird - worüber er ja schon immer Filme gedreht hat. Scorseses Botschaft lässt sich mit einem Absatz aus Endōs Roman zusammenfassen: "Sünde ist etwas ganz anderes, als man gewöhnlich meint. Sünde ist es, wenn ein Mensch über das Leben eines anderen hinweggeht, ohne einen Gedanken an die Spuren, die er dort hinterlässt."

Silence, USA 2016 - Regie: Martin Scorsese. Buch: Jay Cocks, Martin Scorsese nach dem Roman von Shūsaku Endō. Kamera: Rodrigo Prieto. Mit: Andrew Garfield, Adam Driver, Liam Neeson, Issei Ogata. Concorde, 161 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 01.03.2017/pak
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