Alben der Woche:Den Wikipedia-Eintrag der Wiedervereinigung vertont

Silbermond machen Rock für Deutschland, DJ Shadow wühlt sich mit stotternden Breakbeats durch die Trostlosigkeit und Céline Dion verarbeitet das Drama in der Melodie-Achterbahn.

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Fred The Godson - "Godlevel" (T.C.F. Music Group)

Fred The Godson - Godlevel (T.C.F. Music Group)

Quelle: TCF Music Group

Das amerikanische Hip-Hop Magazin kürte den New Yorker Rapper Fred The Godson 2011 zum "Freshman" des Jahres, neben Kendrick Lamar und Mac Miller, die bald darauf Superstars wurden. Der heute 34-jährige Fred The Godson ist immer noch nicht weltberühmt. Auch das neue Album wird daran vermutlich nichts ändern. Dafür ist darauf nach allen Regeln der Kunst exekutierter New-York-No-Bullshit-Rap zu hören, also einschüchternd eloquent, aber ohne ein Wort zu viel zu verlieren. Darüber schwere, bedrohlich verschleppte Beats. "Any violation, only lead to retaliation" - jede Verletzung führt nur zu Vergeltung. Die Verse, die Fred The Godson aus dem Mund fallen, klingen dabei, als sei sein Hals von innen mit Schmirgelpapier verkleidet. Große, ungerührte Kunst.

Jens-Christian Rabe

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Bonnie "Prince" Billy - "I Made A Place" (Domino)

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Quelle: SZ

Die Songs des Songwriters Will Oldham, besser bekannt als Bonnie "Prince" Billy, haben nie geklungen, als habe er es darauf abgesehen, möglichst viele - und schon gar nicht besonders junge - Leute zu erreichen. Seit 25 Jahren ist er der ewige Eigenbrötler des amerikanischen Indie-Country der letzte wirkliche Weirdo unter den Protagonisten des New Weird America. Nach acht Jahren und mehreren Cover-Alben (auf denen er sich dem Gitarrenduo Everly Brothers, Country-Legende Merle Haggard oder der britischen Post-Punk-Band Mekons annäherte) erscheint mit "I Made A Place" (Domino) nun endlich einmal wieder eine Platte mit neuen eigenen Songs. Oldham besingt, mal begleitet von Banjos und heiteren Fideln, mal von Weltschmerz-schweren Steelgitarren, seine Entfremdung vom modernen Alltag. In gewissem Sinne ist also alles wie immer: Die Bariton-Stimme säuselt traurige Melodien und erzählt von Altwerden und Alleinsein. Das ist alles sehr beschaulich. So ganz funktioniert der alte Prince-Billy-Trick aber nicht mehr, mit dem er einst den Country als romantisches Refugium wiederentdeckte in einer unbehaglichen, existenziell aufgewühlten Welt.

Annett Scheffel

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DJ Shadow - "Our Pathetic Age" (Mass Appeal)

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Quelle: SZ

Um dieser Welt etwas entgegenzusetzen, eignet sich das neue Doppel-Album von DJ Shadow vielleicht besser: Der amerikanische Hip-Hop-Produzent Joshua Paul Davis, der in den Neunzigern mit seinem Debütalbum instrumentelle Beat- und Sample-Musik zur Kunstform erhob, wühlt sich auf "Our Pathetic Age" durch die Trostlosigkeit im Angesicht von Klimawandel und sozialer Ungerechtigkeit, und zwar zunächst einmal mit seiner Spezialität: ausgefuchsten Instrumentals. Auf der zweiten Albumhälfte gibt's dann allerlei Gastsänger und Rapper, von Nas und Ghostface Killah, über Pusha T bis zu Paul Banks (Interpol). Näher heran an die blank liegenden Nerven unseres digitalen Zeitalters kommen dabei die Instrumentals: mit ihren meisterlich aufgetürmten, stotternden Breakbeats und zerstückelten Vocal-Samples, mit gespenstischen John-Carpenter-Synthies, zischenden Sequenzern und Future-Jazz-Ausflügen. Alles ist unaufhörlich in Bewegung und doch fest verwurzelt in DJ Shadows elektronischen Echoräumen.

Annett Scheffel

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Tindersticks - "No Treasure But Hope" (City Slang)

Album-Cover 'No Treasure But Hope' von Tindersticks

Quelle: dpa

Eine Band, der seit drei Jahrzehnten das Kunststück gelingt, absolut unverkennbar zu klingen, ohne dabei musikalisch auf der Stelle zu treten? Eigentlich eine Unmöglichkeit. Und doch überrumpeln einen die 1993 im englischen Nottingham gegründeten Tindersticks um Sänger und Songschreiber Stuart Staples alle paar Jahre aufs Neue, indem sie ihrem exquisit streicherverhangen und bläsersatzerhabenen Kammerpop immer wieder andere Aspekte abgewinnen. Zuletzt, nur so viel zur stilistischen Spannbreite, gab es auf "The Waiting Room" von 2016 sogar einen astreinen Afrobeat-Song zu hören. So gesehen ist die besonders spannende Neuerung der verlässlich variablen Band auf "No Treasure But Hope" auch weniger eine musikalische als vielmehr eine inhaltliche. Es ist ein für ein Tindersticks-Verhältnisse geradezu minimalistisches und erstaunlich gegenwartsinformiertes Album voller atmosphärischer Brüche, auf dem die Band ihren sonst so introspektiven Fokus auf Liebesschmerzen komplett hinter sich lässt. Stattdessen tut sich darauf zwischen schwärmerischen Liebesbekundungen ohne jedes Aber, todtraurigen Panoramen gesellschaftlicher Spaltung oder hintersinnig metaphorisierten Brexit-Reflexionen ("The Amputees") eine schwindelerregende Fallhöhe auf, die begreiflich macht, was es heißt, in unserer Zeit zu leben.

Martin Pfnür

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Céline Dion - "Courage" (Sony)

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Quelle: AP

Céline Dion wurde zuletzt vom Schicksal schwerst gebeutelt. Im Jahr 2016 verstarben innerhalb von zwei Tagen sowohl ihr Mann René als auch ihr Bruder Daniel. Zum Verständnis ihres neuen Albums "Courage" (Sony) ist das wichtig, denn es ist ein hoch betrübtes, irgendwie aber auch sich selbst Mut machendes Chanteusen-Powerpop-Trauer-Album, mit einem Optimismus der Sorte "Ich hab die harte Tour durch die Hölle schon hinter mir, was soll da jetzt noch kommen?" (auf dem Cover brennt die Hölle noch). Was da noch kommt, das ist natürlich strikt Céline-Dion-hafte Übererfüllung sämtlicher Erwartungen an ein perfektes Céline-Dion-Hit-Album. Alles ist da: der Klavierballaden-Kitsch, das Highscore-Songwriting, die geschmacklosen Dance-Attacken, die cinematischen Streicherleinwände, über die die 51-jährige Frankokanadierin ihre vermutlich wirklich Autotune-freie Autotune-Stimme Flügel schlagen lässt. In den Dramaspitzen schmeißt sie den legendären Goldknödel in ihrer Kehle an. "This is the perfect goodbye", singt sie - es fällt einem kein Pop-Album aus der jüngeren Vergangenheit ein, auf dem sich Tod, Verletztlichkeit, Perfektion und Triumph so nah standen. Wobei: 20 Songs sind natürlich viel zu viel. Wer als Hörer zu früh aussteigt, verpasst aber mit "The Hard Way" am Ende den größten Wahnsinn: Schneeprinzessin Céline tanzt dem Teufel auf der Nase herum, im Refrain fährt sie Melodie-Achterbahn bis zum Vertigo, und für die letzte Minute wird dann noch richtig Las-Vegas-Showeffekt-mäßig ein Gospelchor aus dem Bühnenboden gefahren. Wüsste man nicht, dass das Drama so echt ist, müsste man Dion dafür loben, dass sie von Drama wirklich viel versteht.

Jan Kedves

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Silbermond - "Schritte" (Sony Music)

Silbermond

Quelle: Sony Music

Ist das jetzt eine Art instagram-poetisiertes Wutbürgertum? Ein Anruf beim Über-Ich? Die finale Distanzierung vom künstlerischen Schaffen? Die Band Silbermond singt im gleichnamigen Song jedenfalls einen "Silbermond" an. Und dieser Silbermond, der "thront" irgendwo "da oben", weit oben, eher unerreichbar, und, nun ja, schon auch entrückt: "Ach, was weißt du schon von unserem Leben hier unten?" Das ist lyrisch natürlich schon fast doppelbödig - und damit eher die Ausnahme auf "Schritte" (Verschwende deine Zeit/Sony), dem jetzt auch schon sechsten Album der Band, auf dem Stefanie Kloß ansonsten in der Hauptsache Auszüge aus den Wikipedia-Einträgen über sich, ihre Band und das wiedervereinigte Deutschland zu singen scheint. Was auf eine irgendwie anrührende Art inhaltlich wiederum sehr deckungsgleich ist. Und dann muss man doch auch mal sagen: Wer diesen Status in diesem Land erreicht, der muss wahrlich keine aufregende Rockmusik schreiben.

Jakob Biazza

© SZ.de/qli
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