Sigrid Nunez' Roman "Eine Feder auf dem Atem Gottes":Anmutige Eleganz

Sigrid Nunez' Roman "Eine Feder auf dem Atem Gottes": Klarheit im Denken, Beobachten, Erinnern: Sigrid Nunez in ihrer New Yorker Wohnung Mitte der Achtziger.

Klarheit im Denken, Beobachten, Erinnern: Sigrid Nunez in ihrer New Yorker Wohnung Mitte der Achtziger.

(Foto: Sigrid Nunez)

Nach dem jüngsten Erfolg der Amerikanerin Sigrid Nunez erscheint jetzt auch ihr erstes Buch neu übersetzt. Ein Kleinod.

Von Sigrid Löffler

Pedanten mögen nörgeln: Ist das überhaupt ein Roman? Vier Teile, je einer über den Vater, die Mutter und den Liebhaber, der vierte übers Ballett. Die beiden Eltern-Texte schon vorher als einzelne Storys in Zeitschriften veröffentlicht. Jetzt mit zwei weiteren Solotexten zwischen Buchdeckel geklemmt und Roman genannt. Ist aber eher irgendwas in Richtung Autobiografie oder Memoir, ein Hybrid, schwankend zwischen Fiction und Non-Fiction. Aber ein Roman? Keinesfalls.

Müßig, so pingelig an einem Buch herumzumäkeln, mit dem sich eine selbstbewusste neue Stimme in der amerikanischen Literaturszene vernehmen ließ, vor mehr als einem Vierteljahrhundert, mit einem Debütbuch, das sich um Genrefragen nicht scherte - weil die Autorin sich sicher war, die einzig richtige Form für das gefunden zu haben, was es hier zu erzählen galt. Und worum es der New Yorker Autorin Sigrid Nunez, Jahrgang 1951, ging, das war ihre ganz eigentümliche wirre Herkunftsgeschichte: Sie wollte sich darüber klar werden, woher sie kam und welche elterlichen Dislokationen, Unschlüssigkeiten, Kontingenzen, Verluste und unerfüllten Sehnsüchte sie mit ihrem eigenen Leben auszubaden hatte, bis sie ihre Erinnerungen richtig fixieren und sich ihrer eigenen Identität vergewissern konnte. Sie beschreibt die Umwege, ehe sie mit Mitte vierzig ihren eigenen Weg fand.

Die Mutter war schön, lebhaft und dominant, eine Drama Queen nicht ohne Bildung, aber voller Zorn

Ihr Leben verdankt sie, die namenlose Ich-Erzählerin, einer abenteuerlichen Paarkonstellation. Ihr Vater, halb Chinese, halb Latino aus Panama, hieß Chang, hispanisierte seinen Namen nach seiner illegalen Einwanderung in die USA, rackerte als schlecht bezahlter Kellner in Brooklyn, machte nie Urlaub und verbrachte sein Leben schweigsam. Er redete nur, wenn er mit seinen Kumpels in Chinatown Chinesisch sprechen konnte. Er lernte Englisch nur rudimentär, erzählte zu Hause nichts von sich und machte sich unsichtbar - ein stummes Rätsel, das zu lösen keiner sich bemühte.

Als amerikanischer Besatzungssoldat hatte er ein halb so altes süddeutsches Mädchen namens Christa geschwängert und in die USA geholt. Das Paar bekam zwei Mädchen, lebte in einem Sozialbau in Brooklyn und hatte nie genug Geld. Die Mutter war schön, lebhaft und dominant, eine Drama Queen nicht ohne Bildung, aber voller Zorn. Sie haderte mit ihrer misslichen Lage, hatte Heimweh und keine Freundinnen. Sie zankte mit ihrem Mann, hasste Amerika, meisterte jedoch die Sprache mit einiger Gewandtheit und redete unentwegt - von ihrer glorreichen Vergangenheit in Deutschland.

Sigrid Nunez' Roman "Eine Feder auf dem Atem Gottes": Stringente Architektur hinter scheinbar locker gefügten Erzählsegmenten: Sigrid Nunez.

Stringente Architektur hinter scheinbar locker gefügten Erzählsegmenten: Sigrid Nunez.

(Foto: Marion Ettlinger/Aufbau Verlag)

Im Grunde sind beide Eltern nie in Amerika angekommen. Sie wussten nicht, wohin sie gehörten, und klammerten sich verzweifelt an ihre Vergangenheit und ihre ethnische Herkunft. Ein Muster, das der Taxifahrer Vadim, der russische Liebhaber der Tochter, später widerlegen sollte. Sie war seine Sprachlehrerin und unterrichtete ihn in Englisch; er war ein sentimental-brutaler Macho mit chaotisch zerstrittenem Familienanhang und unterrichtete sie, anfangs nur radebrechend, über sein gewalttätiges früheres Leben in Odessa als kleinkrimineller Bandit und Zuhälter. Im Gegensatz zu den Eltern seiner Geliebten ist Vadim getrieben vom Verlangen nach Integration, Spracherwerb und Aufstieg in Amerika. Er will dazugehören und arbeitet erfolgreich daran, seine Vergangenheit und sein früheres Selbst abzuschütteln.

Als Vadim den Konjunktiv II gemeistert hat, beendet die Erzählerin die Affäre mit ihm

Die Erzählerin hat mit keiner Figur eine gemeinsame Sprache. Sie spricht nicht Chinesisch mit Chang, nicht Deutsch mit Christa, nicht Russisch mit Vadim. Gleichwohl ist die sprachliche Kommunikation das eigentliche Thema des Romans, denn Sprache ist Identität. Als Vadim den Konjunktiv II gemeistert hat, beendet die Erzählerin die Affäre mit ihm. Ihr Verhältnis zur englischen Sprache, zum literarischen Ausdruck, erweist sich als tiefer, inniger und leidenschaftlicher als ihr Verhältnis zu Menschen. So gesehen, ist auch ihr kurzer masochistischer Versuch, Ballerina zu werden und ihren Körper bis zum Spitzentanz zu malträtieren, nur ein Umweg zu sich selbst. Ballett ist eine Sprache ohne Worte und daher für diese wortbesessene Erzählerin ein Irrweg.

Sigrid Nunez' Roman "Eine Feder auf dem Atem Gottes": Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Aufbau, Berlin 2022. 222 Seiten, 22 Euro.

Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Aufbau, Berlin 2022. 222 Seiten, 22 Euro.

Es entspricht der Verlagslogik zu versuchen, den unerwarteten Erfolgslauf der spät entdeckten Erzählerin Sigrid Nunez weiter zu verlängern. Nachdem "Der Freund", ihr subtiler Hundefreundschaftsroman, 2018 den "National Book Award" gewann und auch international ein großer Publikumserfolg wurde, schob der Verlag das Memoir "Sempre Susan", Nunez' Erinnerungen an Susan Sontag, und die Sterbebegleitungsgeschichte "Was fehlt dir" nach. Nun also das Debütbuch von 1995. Wer ihm vorwürfe, es habe nur Episoden, aber keinen Plot zu bieten, würde die stringente Architektur hinter den scheinbar locker gefügten Erzählsegmenten verkennen. Im Grunde ist hier alles bereits angelegt, was die Originalität der Autorin Sigrid Nunez ausmachen wird: die anmutige, feingliedrige Eleganz des Erzählens, die durchsichtige Klarheit im Denken, Beobachten und Erinnern. Ein Kleinod.

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