Süddeutsche Zeitung

Sigrid Damm:Alter Kerl, schwatz doch nicht so dummes Zeug

Sigrid Damm, die heute 80 Jahre alt wird, rundet ihr großes Lebenswerk mit einer Studie zu Goethe und seinem Dienstherrn Carl August ab.

Von Gustav Seibt

Die deutsche Geschichte hat zwei Herr-Knecht-Beziehungen hervorgebracht, die eine vergleichende Beschreibung unter den berühmten Gesichtspunkten Hegels verdienten: Bismarck und Kaiser Wilhelm und davor Goethe und Herzog (später Großherzog) Carl August. In beiden Fällen entwickelte sich eine gegenseitige Abhängigkeit, die allmählich zur Umkehrung der hierarchischen Verhältnisse führte, bei Wahrung der äußeren Formen - sonst würde der Positionswechsel ja keine Freude machen. Im Fall von Goethe und seinem Herzog war die Beziehung zusätzlich dadurch verkompliziert, dass es sich um eine Freundschaft handelte.

Der alte Goethe empfing in seinem Weimarer Palais fast täglich Besucher aus aller Welt, selbst eine Art Fürst. Orden fremder Souveräne regneten ins Haus. Als Ludwig I. von Bayern ihm ein Großkreuz überreichen wollte, bat Goethe um Genehmigung: "Ich darf wohl hoffen, dass Eure Königliche Hoheit mir Höchstihre landesherrliche Erlaubnis zur Annahme und Anlegung dieses unschätzbaren Beweises der Huld seiner Majestät in Gnaden erteilen werden." War das schon Parodie oder gerade noch Rollenprosa - mit dem fast unzarten Verweis: Du, mein Herr, bist königliche Hoheit, ich aber, dein Knecht, werde von Majestäten dekoriert? Carl August jedenfalls unterlief das Spiel: "Alter Kerl, schwatz doch nicht so dummes Zeug."

Sigrid Damms Buch über die "Wechselfälle der Freundschaft" von Carl August und Goethe ist voll solcher hintergründiger Szenen. Die Autorin, die an diesem Montag achtzig Jahre alt wird, ist Spezialistin für die komplizierten Nahverhältnisse um Goethe. Mit feinem Gehör lauscht sie dem Quellenmaterial verschwiegene Konflikte, ungelöste Spannungen, die Enttäuschungen und die Momente der Erfüllung ab.

Dieses Gehör hat Damm ihren weiblichen Heldinnen abgelernt, den drei wichtigsten Frauen in Goethes Leben: seiner Schwester Cornelia, seiner Frau Christiane und seiner Geliebten Charlotte von Stein. Ihren Beziehungen zu Goethe widmete sie tiefblickende Bücher, die soweit wie möglich die Perspektive der Frauen einnehmen. Am beeindruckendsten gelang dies bei Christiane. Wenn die Nachwelt die poetische Fruchtbarkeit von Goethes Liebe zu Marianne von Willemer feierte, vergaß sie, dass da in Weimar eine Ehefrau saß, die sich verzweifelt nach ihrem Mann sehnte und die monatelang nicht einmal Briefe bekam. Zugleich war Damm klug genug, hier keine feministische Opfergeschichte zu schreiben: Sie zeigt zwei Menschen, die einander viel schuldig geworden sind, und das ist viel bewegender als eine Anklageschrift.

Sigrid Damm ist eine kluge Erzählerin, die die Lücken der Überlieferung sichtbar macht und erst danach fragend mit Einfühlung zu schließen versucht, der Leserin dabei immer volle Freiheit lassend. Diese Kunst übt auch ihr neues Buch, das, mehr als ihre früheren, von einem untergründigen Humor durchzogen ist.

Den verdankt sie vor allem dem Weimarer Herzog, der ein guter Typ war. Er war liberal im ursprünglichen fürstlichen Sinn und wusste trotz vieler Konflikte seinen genialen Freund und Diener zu nehmen, ohne die Verklemmungen, die die Beziehung zwischen Wilhelm I. und Bismarck zeitweise so unerfreulich machten. Damm entfaltet das kompositorisch anspruchsvoll nicht in linearer Chronologie, sondern mit Rückblicken vom Ende her. Das erlaubt ihr, Schwerpunkte zu setzen, die Ödnisse der Verwaltungsarbeit Goethes knapp zu halten und auch den kriegsgeschichtlichen Teil nur anzudeuten. So kann sie die amtliche Seite der Beziehung als Medium der Freundschaft behandeln, ohne sich allzu sehr aufs sachliche Detail einzulassen.

Wie kunstvoll dieser Wechsel von Ausführlichkeit und Andeutung, das Hin und Her in der Chronologie ist, können wohl nur Kenner des enormen Materials ermessen. Heitere Entdeckungen dabei: Einen Teplitzer Badesommer lang hofierten Goethe und der Großherzog die gleiche Wiener Hofdame. Als diese Goethe zu bevorzugen schien, sandte Carl August ihr ein Schächtelchen mit dem "Kadaver Goethes" und schwärzte "Dichtung und Wahrheit" als "Quasi-Lebensgeschichte" an - hat er da übrigens nicht recht?

Wir sehen den Dichter als Minister, wie er bei einem Staatsakt Konkurrenten "wegrudert", um vorne zu stehen; wir sehen den Tausch der politischen Positionen zwischen den Freunden: Im Atheismus-Streit um Fichte möchte Goethe den angeklagten Philosophen halten, bei den Pressefreiheitsexzessen seit 1817 ist Goethe für Repression, während der Großherzog die Stellung gegen die Reaktion in Preußen und Österreich lange hält.

Außerdem aber hat Damm ein beklemmendes Buch vom Sterben geschrieben, vom Tod Carl Augusts, dessen Anschauung Goethe sich durch Flucht entzog. Die Erzählung mündet in die Darstellung der erstaunlich fruchtbaren Sommerwochen von 1828 auf Schloss Dornburg: Überleben durch Schaffen, das war die Fähigkeit des Dichters. Dessen eigenen Weg zum Tod hat Damm schon 2007 in dem Buch "Goethes letzte Reise" nachgezeichnet. Sigrid Damms Lebenswerk, zu dem auch regelrechte Romane gehören, wird immer runder, dabei bleibt es offen für Fortsetzungen.

Sigrid Damm: Goethe und Carl August. Wechselfälle einer Freundschaft. Insel-Verlag, Berlin 2020. 320 Seiten, 24 Euro.

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