Ausstellung Surrealismus und Freud:Erregungskurven des Unbewussten

Ausstellung Surrealismus und Freud: Entdeckung einer "zweiten Wirklichkeit": "The Lonely Metropolitan" von Herbert Beyer.

Entdeckung einer "zweiten Wirklichkeit": "The Lonely Metropolitan" von Herbert Beyer.

(Foto: Bildrecht, Wien 2022)

Das Sigmund-Freud-Museum in Wien zeigt Werke von Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, André Masson und anderen Surrealisten. Für diese Künstler war Freuds "Traumdeutung" eine Offenbarung.

Von Dorothea Baumer

Wien, Berggasse 19, die weltberühmte Adresse ist heute Sitz des Sigmund-Freud-Museums. In diesem Haus lebte und arbeitete der Begründer der Psychoanalyse fast ein halbes Jahrhundert lang, von 1891 an, bis ihn die NS-Schergen im Juni 1938 zur Flucht ins Londoner Exil trieben. Hier schrieb er sein epochales Werk "Die Traumdeutung". Als es 1899 (vom Herausgeber auf 1900 vordatiert) erschien, reagierte die Fachwelt befremdet, ja konsterniert. Weitaus begieriger, mitunter geradezu obsessiv, stürzten sich Künstler wie Salvador Dalí, Literaten wie André Breton, Louis Aragon oder Paul Éluard auf die Lektüre, sobald sie ihrer habhaft wurden.

Es waren Künstler, zu deren Grunderlebnis die Entdeckung einer "zweiten Wirklichkeit" gehörte. Künstler, denen der Traum zum Paradigma ihres Weltbildes wurde, die die Domäne des Unbewussten für sich reklamierten, sich der freien Assoziation hingaben, wie sie überhaupt im Glauben produzierten, dass aus dem Unbewussten, dem Irrationalen, dem Traum, kurz, aus den unbeherrschten Regionen der Seele, eine neue Erkenntnis, eine neue Wahrheit, eine neue Kunst entstehen würde. Ein loser Zirkel Gleichgesinnter um André Breton als Sprachrohr und Impresario, der sich zur Bewegung der Surrealisten zusammenfand. Ihnen ist eine Sonderausstellung des Sigmund-Freud-Museums in den einstigen Privaträumen des Analytikers gewidmet ("Surreal! Vorstellung neuer Wirklichkeiten"), eine intime, fast familiäre Schau ihrer Werke, die an diesem Ort zweifellos einen einmaligen Reiz entfaltet.

Es ist eine Geometrie aus Spiel und Anspielung, eine Erfahrungswelt voller Paradoxien

Gezeigt werden rund hundert Werke aus der Sammlung Klewan - surrealistische Kunst im weitesten Sinn, von der heroischen Phase bis in die späten internationalen Verzweigungen. Deutlicher als anderswo wird hier im eher kleinen Format die künstlerische Physiognomie des Surrealismus ablesbar, fesselt diese fragile Erfahrungswelt mit ihren Paradoxien, enthüllen die besten Exponate diese ganz spezifische Geometrie von Spiel und Anspielung und bieten darüber hinaus ein exemplarisches Spektrum der erweiterten formalen Möglichkeiten. Neben Zeichnungen und Gemälden sind das vielfach zauberische, mitunter krude Collagen, geschmeidige Typografien, ins Informelle sich lösende Skulpturen oder neue, destruktive Verfahren der Fotografie.

Ausstellung Surrealismus und Freud: Auf diesem Bild mit dem Titel "Écrire" (1936) porträtiert René Magritte den surrealistischen französischen Dichter Paul Éluard.

Auf diesem Bild mit dem Titel "Écrire" (1936) porträtiert René Magritte den surrealistischen französischen Dichter Paul Éluard.

(Foto: Bildrecht GmbH/Sammlung Klewan)

Man taucht also ein in diese durch und durch disparate, unvertraute Welt von Giorgio de Chiricos Stadtlandschaften, trifft auf René Magrittes abgefeimt bieder gezeichnetes Porträt von Paul Éluard (1936), der den Schriftzug "écrire" wie gedankenverloren unter die nackte Brust eines weiblichen Körpers setzt, gewahrt die Macht des Sexuellen und bekommt es in Man Rays halbseitig rasiertem Selbstporträt von 1943 mit konzeptionellen wie subversiven Impulsen zu tun. Ein überraschender ästhetischer Schärfegrad spricht aus einem scheinbar harmlosen Skizzenblatt Alberto Giacomettis, das unter dem Titel "Bewegliche und stumme Objekte" (1931) seine frühen, stark von Georges Bataille inspirierten Skulpturen archiviert, darunter die explizit sadistische "Schwebende Kugel" von 1930, eine erotische Maschine zur Nichterfüllung von Lust.

Das einst Schockhafte, verstörend Skandalöse ist heute nur noch historisch nachzuvollziehen

Die Lizenz, alles in alles zu verwandeln, kann in dieser Auswahl keiner so ausreizen wie André Masson, Surrealist der ersten Stunde. Während er sich in "Les jeunes filles" (1926), einer vertikal gestützten Komposition frei flottierender Formen, der Ölmalerei bedient, deren baldiges Ende Louis Aragon schon wenig später ausruft, lässt er in der etwa gleichzeitig entstandenen automatischen Zeichnung "L'homme-cheval", ganz im Sinne einer Kunst der Kunstlosigkeit, die handschriftliche Erregungskurve umso spontaner fließen und liefert darüber hinaus einige der ikonischen Künstlerporträts, wie das in wenigen imperialen Kohlestrichen umrissene von André Breton. Künstlerinnen, abgesehen vielleicht von Meret Oppenheim, kamen in diesem ausgeprägten Pariser Männermilieu, wenn überhaupt, erst ab den reiferen 1940er-Jahren zum Zug und bleiben blass.

Mehr als die großen Namen von Max Ernst bis Yves Tanguy, von Hans Bellmer bis Raoul Ubac, sind es vor allem Randfiguren, die für die Breite der internationalen Bewegung stehen können. Ein Pierre Molinier etwa, der seinen obszönen Fantasien in Fotomontagen freien Lauf lässt oder Wilhelm Freddie, ein dänischer Surrealist, der in wüsten Collagen Körperfragmentierungen vornimmt, deren Nachhall man bisweilen in den Werken der Wiener Gruppe zu vernehmen meint. Das einst Schockhafte, gar verstörend Skandalöse ist heute allerdings nur mehr historisch nachzuvollziehen, das hat die erste Wirklichkeit längst eingeholt.

Ausstellung Surrealismus und Freud: Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud. Die Verehrung, die ihm die Surrealisten entgegenbrachten, war grenzenlos.

Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud. Die Verehrung, die ihm die Surrealisten entgegenbrachten, war grenzenlos.

(Foto: Max Halberstadt/Sigmund Freud)

In einem späten Porträt Salvador Dalís (1973) überblickt Freud das Geschehen. Die Verehrung, die die Künstler dem Traumdeuter und Psychoanalytiker entgegenbrachten, war grenzenlos. Über fünfzehn Jahre hinweg hielt Breton einen Briefwechsel mit dem stets höflich, gleichwohl distanziert Antwortenden aufrecht, erreichten Widmungsexemplare "mit tiefer Bewunderung und dem größten Respekt" (René Char) den Wiener Meister, grüßten Breton und Éluard im gemeinsamen Opus Freud als "notre véritable père". Allein, die Verehrung blieb einseitig. So viele Erkenntnisse der Surrealismus einer "Traumdeutung", einer "Gradiva"-Studie auch verdanken mochte, Freud selbst blieb diese künstlerische Bewegung eine sehr ferne Welt. Er lebte buchstäblich in einer anderen. Er pflegte einen konservativen Geschmack, liebte seine "alten, dreckigen Götter", archaische und antike Werke, die er besessen sammelte, mit denen er gern Zwiesprache hielt, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Insofern gleicht die nicht zuletzt darum höchst inspirierende Ausstellung durchaus einer Art Kuckucksei, das man ihm da ins ehemalige Wohn- und Esszimmer gelegt hat.

Wie wir uns die untergegangene Welt Freuds vorstellen dürfen, vermittelt auf nachgerade einzigartige Weise das völlig neu konzipierte, 2020 wiedereröffnete Sigmund-Freud-Museum. Es ist seither zu einer Attraktion ersten Ranges geworden.

Surreal! Vorstellung neuer Wirklichkeiten bis zum 16. Oktober im Sigmund Freud Museum, Wien. Der Katalog kostet 19,90 Euro.

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