Kunst:Beipackzettel für die BRD

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Die Künstlerin als Schaufenstermensch: Eine Retrospektive zum Werk von Katharina Sieverding in Hamburg.

Von Till Briegleb

Wiederholt sich Geschichte doch? In den Bananenkisten und Plakaten, die am Anfang der Katharina-Sieverding-Retrospektive in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg gezeigt werden, entsteht genau dieser Eindruck. Eng gepackte Spiegel-Cover aus den Nachkriegsjahrzehnten geben die Aussicht auf eine unbelehrbare historische Kreisbewegung. Da lacht einen der "Irre mit der Atombombe" aus Nordkorea wie heute an, es geht um Kämpfe zwischen Israel und den Palästinensern unter dem Titel "Das lange Sterben", Putin ist "Der gefährliche Nachbar", und zu Joseph Beuys fragte ein Magazintitel bereits vor Jahrzehnten: "Der Größte - Weltruhm für einen Scharlatan?" Alles immer dasselbe? Höchstens mit neuen Super-Egos hinter den fetten Lettern?

Ob diese Ereignisschleifen nun der journalistischen Fixierung auf eine bestimmte Form von Geschichte, der Beschränktheit des Menschen, aus seinen Fehlern zu lernen, oder einem historischen Biorhythmus geschuldet sind, will die Fotokünstlerin Katharina Sieverding sicherlich nicht konkret beantworten. Aber das fatalistische Entree zur größten Retrospektive, die ihr jemals ausgerichtet wurde, verdeutlicht sofort die Methode Sieverding, die der lange Marsch über vier Stockwerke mit mehr als 100 großformatigen Arbeiten bestätigt. Katharina Sieverding geht es um Mustererkennung. Ihr gesamtes Lebenswerk, wie es hier in größter Ausführlichkeit zu besichtigen ist, prägt die analytische Suche nach Strukturen unter der gesellschaftlichen Oberfläche.

Sieverding studierte in der Klasse von Joseph Beuys und kam so zur Fotografie

Seit sie in den späten Sechzigern in der Klasse von Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie damit begann, die Kamera als ihr Werkzeug zu entdecken - und zwar entgegen der Kunstauffassung ihres berühmten Lehrers, der Fotografie durch Polizeibilder in ihrem künstlerischen Wert eigentlich für erschöpft hielt -, hat Sieverding nach strukturellen Ähnlichkeiten gesucht. Die Abbilder der Wirklichkeit, die sie sammelt und eher selten selbst fotografiert, ordnet sie seither in großen Tableaus zu dialogischen Schichtungen. Und das kann manchmal durchaus sehr provozierend werden, etwa wenn sie in der Serie "Encode" von 2006 die Blockstruktur des Konzentrationslagers Sachsenhausen mit den linearen Blöcken des Berliner Holocaustmahnmals überblendet.

Aber Sieverding versucht, das Bewusstsein für wiederkehrende Ereignisse in der Regel nicht durch Schock zu wecken. Anders als Marina Abramović, die wie Sieverding immer wieder politische und psychische Prozesse in ihrer Kunst thematisiert hat, ist es nicht die Grenzüberschreitung, die sie für ihre Anstöße verwendet. Wo Abramović sich den eigenen Körper aufschnitt oder auf einem Haufen blutiger Knochen saß, um Gewalt in der Gesellschaft zu entblößen, verschleiert Sieverding die destruktiven Kräfte der Menschheit eher rätselhaft in ihren Bildcollagen. Die Muster, die sie im menschlichen Handeln und seiner Darstellung findet, brauchen den Beipackzettel.

Noch neueste Arbeiten zu aktuellen Krisen wie "Gefechtspause II" illustrieren diese sanfte Einmischung in wesentliche Themen, die Sieverding bevorzugt. Eine in Einzelfiguren zerstückelte Parteiinszenierung des chinesischen Diktators Xi Jinping wird mit dem Kniefall von Polizisten in den USA vor schwarzen Demonstranten verschränkt, gehalten in den Farben der US-amerikanischen Flagge. Diese Motivkonfrontation gibt dem Besucher zwar genug assoziative Denkaufgabe mit, aber dass es hier auch um die Corona-Epidemie geht, die in China begann und in den USA vor allem die Ärmsten, also überproportional viele Schwarze, traf, muss man im Begleitheft nachlesen. Das Unverständliche weckt die Neugier, die Collage befriedigt keine Antwortsuche.

Vom zyklischen Charakter der Geschichte, wie die mittlerweile achtzigjährige Sieverding sie in ihrem Leben so häufig erlebt und künstlerisch verarbeitet hat, zeugen auch die Querverbindungen in dieser beeindruckenden Ausstellung, die eigentlich im November hätte eröffnet werden sollen und seither im Dornröschenschlaf lag. Bereits 1976 hat Sieverding nach einer USA-Reise die ideologische Konkurrenz der Supermächte in der Vierkanal-Diaprojektion "CHINA-AMERICA" inszeniert. Jeweils zwei Bilder aus amerikanischen Magazinen jener Zeit, die von Werbung und Technikoptimismus bis zum urbanen Elend eine stattliche inhaltliche Palette abdecken, wurden mit zwei Bildern aus kommunistischem Propaganda-Material konfrontiert, meist von glücklichen Soldaten und Werktätigen im uniformen Look der Mao-Mode.

Diese Kunst reflektiert Machtverhältnisse mit Röntgenblick

Das Verhör eines verunsicherten Bertolt Brecht vor dem "Komitee für unamerikanische Umtriebe" von 1947, das dazu eingespielt wird, stört dann subtil diese Balance fotografischer Selbstbehauptungen. Und erinnert an die Wiederkehr aggressiver Herrschaftspolitik, die einfach nicht aufhören will. Die angstbesetzte Permanenz einer Weltsicht des Entweder-Oder, die sich in dem erbitterten Kampf zweier Kulturen und ihrer Machtansprüche zeigt, war schließlich zuletzt vier lange Trump-Jahre das neu belebte Muster gefährlicher Konfrontation. Wo der Mensch nur richtig oder falsch sein kann, da brodelt die Eskalation unter der Oberfläche. Dieser schlummernde Vulkan ist es, den Sieverding in ihrer Kunst mit Röntgenblick reflektiert.

Allerdings hat sie in ihrer langen Karriere Konfrontationen nicht nur subtil inszeniert. Sie hat auch Gegensätze bewusst verwischt, um die Fragwürdigkeit klarer Zuschreibungen zu zeigen. Bereits 1973 überblendete sie im Labor Porträts von sich selbst und ihrem Partner Klaus Mettig für die Bildserie "Transformer". Männlich oder weiblich wird in diesen grünlich eingefärbten Monumentalporträts zur Kategorie des Unbestimmbaren. Und diese Auflösung und Selbstgestaltung von Körperlichkeit ist das zweite große Leitthema in der über 50 Jahre dauernden Beschäftigungen von Katharina Sieverding mit Mustern, die unsere Wahrnehmung vor allem dann prägen, wenn sie uns verborgen bleiben oder wir sie für selbstverständlich halten.

So hat Sieverding immer sich selbst ins Zentrum ihrer Kunst gestellt, als Schaufenstermensch, der mal grell überschminkt, mal in Gold zur Statue verwandelt, mal androgyn, hässlich oder heroisch übertrieben von der Täuschung erzählt, die Rollen- und Geschlechtsbilder tatsächlich sind. Auch das ist eine Auseinandersetzung, die gerade mal wieder einen Punkt in der Geschichtsschleife erreicht hat, wo mit neuem Jargon, aber alten Argumenten über Identität gestritten wird. Dass bei diesen Schlachten um die emotionale Selbstbestimmung Eitelkeit eine extrem große Rolle spielt, auch das lässt sich in den vielen Selbstinszenierungen von Katharina Sieverding wiederfinden.

Es kann natürlich irritieren, wie schön im klassischen Sinne die oppositionelle Kunst der Düsseldorfer Zeitthemen-Collagistin ist. Anders als die allermeiste Gegenwartskunst, die sich kritisch mit politischen Themen beschäftigt, sind Sieverdings wandfüllende Tableaus absolut sammlertauglich. Ihre Ästhetik sucht nicht nur durch die Größe der Formate das Erhabene, sondern auch durch die oft starke Farblichkeit und die grafische Präsenz ihrer Bildmotive, die an abstrakte Malerei erinnern kann. Vermutlich lässt sich auch das kontroverseste Thema in der Bildsprache von Katharina Sieverding in dem Foyer einer Bank platzieren. Ob es dort als Trojanisches Pferd für subversive Botschaften wirkt oder als Gewissenspflaster für vorbeieilende Geschäftsleute, die nur Gewinn im Kopf haben, lässt sich kaum klären.

Aber es ist auch nichts, worüber man sich große Sorgen machen muss. Im Lebenswerk der stets schwarz und mit schwarzer Sonnenbrille auftretenden Grande Dame kritischer Kunstmoderne ist das bewusst Schöne optimistischer Ausdruck. Schicken ihre Kollegen und Kolleginnen mit düsteren Weltenbrand-Werken den Besucher meist mit dem Gefühl nach Hause, das eh alles sinnlos ist, so schafft die lebensstrotzende Fotomalerei der Katharina Sieverding den Hinweis auf andere Frequenzen in der Geschichte. Auch das Lebensmuster von Freude, Spaß und Glück wiederholt sich schließlich zyklisch in einem Menschenleben. Und das sind dann Wiederholungen, über die niemand wirklich unglücklich sein muss. Zumal, wenn sie auch mit 80 Jahren noch möglich sind. Ohne Optimismus keine Geschichte.

Katharina Sieverding - Fotografien, Projektionen, Installationen 2020-1966 bis zum 25. Juli in der Sammlung Falckenberg, Hamburg.

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