Siebte Station in Nouadhibou, Mauretanien:Öl auf Wasser

Doku-Blog: Das Licht in der Wüste

Er drückte noch kurz auf seinen geschlossenen Lidern herum, dann wies ihm eine tiefstehende Sonne in violett tanzenden Schemen den Weg. Er sah genug.

(Foto: Michael Glawogger)

In der Wüste Mauretaniens scheint sich selbst die Sonne Zeit zu lassen. Sie scheint. Wenn man mit geschlossenen Augen durch die Wüste geht, wird die Wahrnehmung selbst zum Erlebnis. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

In der Wüste Mauretaniens scheint sich selbst die Sonne Zeit zu lassen. Sie scheint. Wenn man mit geschlossenen Augen durch die Wüste geht, wird die Wahrnehmung selbst zum Erlebnis.

So lange und so intensiv er auch schaute, er konnte sich kein Bild von der Wüste machen. Wenn er auf einer Düne stand, über deren Kamm ein sanfter Wind blies, wenn er sich nicht an den brüchigen Gesteinsformationen oder den wenigen, vom Wind gebeugten Bäumen und Sträuchern sattsehen konnte - es war wie bei langen Autofahrten, wo er sich nie lange genug konzentrieren konnte, um zu bemerken, wann die Landschaft sich änderte: seine Gedanken wurden so klebrig, schwer und zäh wie Öl auf Wasser.

Der weiße Vogel, der über diesem Wasser dahingleitet, weicht geschickt aus oder flattert, wenn er sich doch beschmutzt hat, aufgeregt hoch, um nicht noch mehr von der feindlichen Flüssigkeit zu erwischen, die sein Gefieder gefährlich verkleben könnte.

Später, hoch oben auf einem Baum am Ufer, wird er feststellen, dass er die ölverschmierten Stellen nicht mehr sauber bekommen wird.

Er ging in einer Wüste nahe am Meer. Der Sand gelb, die Büsche weiß und dürr, manchmal ein lasziv grünes Gewächs mit fetten Blättern mitten drin. Er ging und ging, und nie kam etwas anderes, neues für das Auge.

Das Meer schien zum Greifen nah und doch weit weg. Mit jedem Schritt weiter weg. Er schloss die Augen und versuchte, blind zu gehen.

Große, feste Schritte

Beim ersten Versuch schaffte er fünf Schritte, bis er blinzelte, beim nächsten vierundzwanzig, bis sich ein dornenartiger Stift durch seinen Gummischlapfen bohrte. Bei fünfundsiebzig verlor er den Gleichgewichtssinn, und nach mehreren solchen Anläufen schaffte er es bis hundert.

Dann war der Bann gebrochen, und er machte keine kleinen, vorsichtigen Schritte mehr, sondern große, feste. Er drückte noch kurz auf seinen geschlossenen Lidern herum, dann wies ihm eine tiefstehende Sonne in violett tanzenden Schemen den Weg.

Er sah genug. Und er hätte hören sollen, aber das Geräusch seiner Schritte überdeckte das Sirren der Sandkörner, die der Wind über die Oberfläche trieb, und das leise Rascheln der trockenen Büsche. Er blieb stehen. Es tanzte violett vor seinen Augen und knisterte.

Nur das Violett und der Wind

Nirgends ist nichts. Auch hier nicht. Aber das Nichts ist hier schon ganz nahe. Er versuchte das ganze auf einer Düne. Einer kleinen. Einer, die ganz offensichtlich wanderte, und auf der es keine knisternden Büsche mehr gab.

Den Sand konnte er auch nicht mehr hören, weil der Wind hier um einen Deut lauter pfiff. Er konnte bald an die tausend Schritte machen, ohne die Augen zu öffnen, und sah nicht nur das Violett tanzen, sondern fühlte auch den Sand über seine nackten Füße abrinnen. Oder er sah das Licht rinnen und den Sand tanzen.

Bald hatte er den letzten Halt, das Zählen seiner Schritte, auch verloren. Es war dann schon irgendwie Nichts. Ein wenig Angst war übrig geblieben. Er könnte auf einen Skorpion steigen oder ... Es fiel ihm kein Oder ein. Aber immerhin. Die vielen Schritte, bei denen er auf keinen Skorpion gestiegen war, machten ihn furchtlos oder unvorsichtig, und so verdrängte er bald auch das bisschen Angst, und es blieben nur das Violett und der Wind. Ein violetter Wind.

Er ging schon zu lange, als dass das noch hätte wahr sein können. Er musste also weg. Der Vogel hatte seine schmierig-klebrigen Gedanken mit auf den Baum genommen, und da war gar nichts mehr übrig.

Die Zahlen waren vergessen, und das Gehen ging von selbst. Das Gehen ging. Er versuchte es rückwärts. So, wie er gekommen war - vorsichtig sich auf das Wenige konzentrierend. Er schaffte es, stehen zu bleiben. Als er stand, bemerkte er, dass das Violett verschwunden war. Ihn fröstelte, und der Wind war lauter geworden. Jedes Sandkorn schien einen Höllenlärm zu machen.

Die Wüste tobt wie eine grüne Hymne

Es war, als steckten tausend kleine Nadeln in seinem Gesicht. Das fühlte sich auch farbig an - aber nicht mehr violett, sondern eher grün. Er ging wieder. Und er zählte. Nach tausend Schritten zuckten seine Lider, nach tausendeinhundert rutschte sein rechter Fuß ab, und nach tausendeinhundertvierundzwanzig lag er auf dem Rücken im Sand und starrte in den Nachthimmel.

Der Mond war eine Sichel wie auf der Mauretanischen Flagge, und die Wüste tobte wie eine grüne Hymne: "Sei Gottes Gehilfe und verurteile, was nicht sein soll, und mache das zum Gesetz, was er zum Gesetz gemacht. Niemand solle es wagen, gut oder böse zu sein außer ihm selbst."

Im Hotel Al Jazira aß er ein Steaksandwich, bei dem das Brot vom Saft des Fleisches vollgesogen war, und in das der Koch Pommes Frites gestopft hatte, um es noch reichhaltiger zu machen. Das Sandwich wollte kein Ende nehmen. Das zähe Fleisch knirschte zwischen seinen Zähnen, und der herbe Geschmack der Soße ätzte seinen Weg in alle seine frisch erwachten Sensorien.

Festen Sand unter den Füßen

Die Mauretanische Hymne, die zur Großaufnahme der wehenden Flagge aus dem Fernseher drang, brachte ihn auf den Sand der Tatsachen zurück. Er stolperte innerlich und konnte nicht weiter essen.

In dieser Nacht träumte er, in einem Meer zu schwimmen. Das Meer war freundlich und kräuselte sich leicht in einem sanften Sonnenlicht. Er spürte seinen Körper geschmeidig durch das Wasser gleiten, aber darin tobte ein Leben, und die schleimigen, schuppigen, festen Körper der Fische rieben sich an ihm.

Sie nahmen in seiner sich überschlagenden Vorstellung absurde Formen und Größen an. Ihre Berührungen waren fordernd und nicht mehr neugierig oder freundlich. Mehr und mehr Schleim drang aus ihren offenen Kiemen, und bald meinte er, in einem Meer aus Schuppen, Flossen und Augen zu versinken.

Es war kein Wasser mehr da, nur mehr Fische. Ein Traum eben. Einfach nur Schritte zählen, und er würde schon wieder auf einer Düne landen. Festen Sand unter die Füße zu gewinnen, hieß es.

Es war wieder Tag, und er schloss die Augen beim Fahren. Wüste, ohne dass man sie spüren hätte können. Die wenigen Menschen draußen waren in Tücher gehüllt und so nicht erkennbar. Wenn überhaupt etwas, dann wirkten sie gelassen. Die Arme pendelnd, der Gang aufrecht, und selten war eine Hast in ihrem Tun auszumachen. Warum auch? Die Wüste ist groß. Die Kamele schlendern. Selbst die Sonne scheint sich Zeit zu lassen. Sie scheint.

Schwere Luft

Beim Fahren entbehrte das Schließen der Augen jeglicher sinnlicher Qualität. Er hörte nur das Brummen des Motors und das leichte Schleifen des rechten hinteren Reifens. Er nahm sich vor, das blinde Gehen in einer Großstadt zu versuchen. Wie viele Schritte er wohl schaffen würde?

Als er es schließlich tat, war es wie in dem Traum mit den Fischen. Zuerst war es freundlich und fast kindlich heiter. So als spielte man Blindsein. Dann wurde es zunehmend bedrohlich. Menschen, Geräusche, Gerüche und schwere Luft drängten sich um ihn und kamen ihm näher und näher, bis er das Zählen verlernt und zu träumen vergessen hatte.

Endlich trat er auf den Skorpion. Dankbar schaute er zum Himmel und sang aus voller Brust: "Sei Gottes Gehilfe und verurteile, was nicht sein soll, und mache das zum Gesetz, was er zum Gesetz gemacht. Niemand solle es wagen, gut oder böse zu sein außer ihm selbst."

Das Bild der Wüste war da.

https://www.facebook.com/MichaelGlawogger

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