Shirin Neshat in München:Echo im Inneren des Bergs

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Shirin Neshats Ausstellung "Living in One Land, Dreaming in Another" in der Münchner Pinakothek der Moderne untersucht das Gefühl von Identität und Fremdheit.

Von Evelyn Vogel

Sie schauen dich an. Lassen dich nicht aus den Augen. 111 Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, verschiedener Herkunft und gesellschaftlicher Stellung. 111 Porträts in sieben Größen und Formaten. In strengem Schwarz-Weiß fotografiert, hin und wieder in Sepia getaucht. Noch strenger ist die Präsentation: Bis unter die Decke gedrängt in Petersburger Hängung füllen die Fotografien den Ausstellungsraum, umfangen den Betrachter. Es ist ein ungemein wuchtiger Auftakt zur Ausstellung "Living in One Land, Dreaming in Another" von Shirin Neshat in der Pinakothek der Moderne in München. Und er wirkt wie eine Echokammer der amerikanischen Gesellschaft.

Seit 1975 lebt die aus dem Iran stammende, mehrfach ausgezeichnete Fotografin und Filmemacherin Shirin Neshat in den USA. Vielfach hat sie sich mit der Lage von Frauen in der muslimischen Welt auseinandergesetzt. Ihre Themen kreisen um Identität, Heimat und Exil, um Gegensätze zwischen dem Osten und dem Westen. Doch erst 2019, unter dem Eindruck von Donald Trumps Präsidentschaft, setzte sich Neshat explizit mit ihrer Exilheimat auseinander. Nicht in New York, wo sie lebt, sondern in einem Navajo-Gebiet in New Mexiko fand Neshat, so erzählt sie bei ihrem Besuch in München, "das Amerika, wie ich es als Emigrantin sehe: voller Diversität".

Dort also fotografierte sie die Menschen für ihre 111-teilige Serie "Land of Dreams" - der Titel eine unmissverständliche Anspielung auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten - und ließ sich deren Träume erzählen. Auszüge aus den Protokollen sowie literarisch inspirierte Interpretationen schrieb sie mit Tusche in Farsi auf die entsprechenden Fotos - so es denn etwas zu schreiben gab. Denn nicht alle Porträtierten konnten oder wollten ihre Träume offenbaren. In dem Fall hat Neshat die Fotos in kalligrafischer Manier mit dem Namen und dem Geburtsdatum der Porträtieren anstelle einer Signatur in Farsi gekennzeichnet. Die meisten Aufnahmen jedoch überzieht ein Netz feinster Schriftbilder, die man oft erst aus der Nähe erkennt. So entstand inhaltlich ein poetisches Traumgebilde, formal eine streng konzeptuelle Fotoarbeit.

In ihren Videos prallen Ost und West, Traum und Wirklichkeit aufeinander

Die Fotoinstallation ist nur ein Teil von "Land of Dreams". Der andere eine Zwei-Kanal-Videoarbeit, die im angrenzenden Raum läuft. Darin gibt sich Simin - ein Alter Ego von Shirin Neshat - als Kunststudentin aus, die Menschen im Landstrich rund um den imposanten "Ship Rock" besucht, um sie zu fotografieren und wie nebenbei etwas über ihre Träume zu erfahren. Tatsächlich ist sie, wie das parallele Video zeigt, eine Agentin des iranischen Geheimdienstes, dessen unterirdische Zentrale in der kathedralenartigen Felsformation des Bergs verborgen ist. So prallen hier Ost und West, Traum und Wirklichkeit aufeinander. Als Simin die Träume der Anderen auf eigene Faust erkundet und damit die Regeln bricht, wird sie von einem Tribunal, das Neshat wie das Letzte Abendmahl inszeniert, zur Verantwortung gezogen.

Neben dieser medienübergreifenden Installation "Land of Dreams", die als Grundlage für den gleichnamigen Spielfilm diente (uraufgeführt 2021 bei den Filmfestspielen in Venedig), zeigt die Pinakothek der Moderne die Fotoserien "The Book of Kings" von 2012 und "The Home of My Eyes" von 2015 sowie die Videoarbeiten "Possessed" von 2001 und "Roja" von 2016. Gerade im Vergleich der Videoarbeiten wird deutlich, wie viel politischer Neshat geworden ist. Die Gesellschaftskritik darin ist zwar unübersehbar, wird aber durch die surrealen Inszenierungen stark metaphorisch verzerrt. Der Video-Part von "Land of Dreams" ist trotz seiner kafkaesken Momente erzählerisch stringenter, die Bildsprache trotz der stimmungsvollen Landschaftsbilder realistischer.

Die Fotoserien hingegen sind einander formal ähnlich. Ob es sich um die Grüne Bewegung im Iran und den Arabischen Frühling ("Book of Kings") oder den Vielvölkerstaat Aserbaidschan ("Home of My Eyes") handelte, Shirin Neshat überschrieb die Fotos der Porträtierten, die sie zu Heimat und Identität befragt hatte, mit Texten persischer Gelehrter, die sich wie Chiffren auf den Körpern wiederfinden. Ästhetisch ist dieses Miteinander von Fotografie und Kalligrafie sehr reizvoll. Inhaltlich bleibt man außen vor, wenn man die Schrift nicht lesen kann. Aber vielleicht ist gerade dies das Gefühl, das die iranische Emigrantin Shirin Neshat den westlichen Betrachtern ihrer Exilheimat vermitteln will: Wie es ist, ausgeschlossen zu bleiben - egal wie sehr man sich um Zugang bemüht.

Shirin Neshat: Living in One Land, Dreaming in Another. München, Pinakothek der Moderne. Bis 24. April 2022.

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