"Shane" im Kino:Wrack, Poet, Rebell

Shane

Wie ein schrulliger Eigenbrötler im Universum von Tim Burton: "Pogues"-Frontmann Shane MacGowan.

(Foto: Neue Visionen Filmverleih)

Julien Temple porträtiert den "Pogues"-Frontmann mit einer irrwitzigen, liebevollen Filmcollage.

Von Anke Sterneborg

Mit bleichem Teint und schiefen Zügen, zerwühlten, grauen Haaren und langen Bartstoppeln, mit abgebissenem Ohrläppchen, schwarzen Zahnstummeln und dem fauchenden Lachen könnte Shane MacGowan gut einer der schrulligen Eigenbrötler im Universum von Tim Burton sein. Aus den traurigsten wasserblauen Augen, die man sich vorstellen kann, schaut er weniger in die Welt hinaus als in sich selbst hinein. Da ist es nur konsequent, dass Julien Temple in seinem Filmporträt des irischen Folk-Punk-Poeten und Frontmann der Pogues ein feines Gewebe aus Blicken spinnt: Quer durch die Zeiten beobachtet und belauscht MacGowan die jüngeren Versionen seiner selbst, in Fotos, Amateurfilmen, Fernseh-Interviews und Konzertmitschnitten, hier und da kommentiert oder widerspricht er, mal unwirsch, mal nachdenklich sinnierend.

Seit bald fünf Jahrzehnten ist Julien Temple der begnadete Chronist des Punk. In Form von Musikvideos, Kinofilmen und Filmporträts wie "The Great Rock'n Roll Swindle" über die Sex Pistols oder "Joe Strummer: The Future is unwritten" hat er dessen wilde Seele eingefangen. Die Idee eines Films über sein Leben gefiel MacGowan, aber klassischen Interviewfragen wollte er sich nicht stellen, wohl auch wegen der vielen Löcher, die der Alkohol im Laufe der Jahre in seine Erinnerung gerissen hat. Stattdessen gibt es ein paar Tresen-und Tisch-Runden mit Freunden und Weggefährten wie dem Schauspieler Johnny Depp, der den Film auch produziert hat, oder dem irisch-republikanischen Politiker Gerry Adams, immer mit einem Glas Wein oder Ähnlichem in der Hand, oder zumindest in Reichweite.

Vom Leben auf dem Bauernhof über die Londoner Punkszene bis zu den legendären Drogen- und Alkoholabstürzen

Temple versucht gar nicht erst, das wüste Leben und die kompromisslos unberechenbare Existenz MacGowans in eine Chronologie zu zwängen. Er folgt stattdessen dieser eigenwilligen Passionsgeschichte im Dienst der irischen Kultur und Historie. Ja, es gibt einen zarten roten Faden, der vom einfachen Leben auf dem Bauernhof in der irisch-katholischen Heimat zum ungeliebten Exil in England führt, über die Neugeburt in der Londoner Punkszene der Siebziger zu einem Ruf, der von London nach Irland und in die Welt hallte, bis zu den legendären Drogen- und Alkoholabstürzen. Davon ausgehend kompiliert Temp aus einer Fülle von Eindrücken ein flirrend assoziatives Bild. Aus Erzählungen der liberalen Eltern und der weisen Schwester Siobhan, aus auf der ganzen Welt zusammengetragenen Tonaufnahmen und Archivmaterial von den irischen Freiheitskämpfen entsteht eine irrwitzige Collage, die in der Logik von Traum und Rausch durch Zeit und Raum oszilliert.

Nichts ist da gesichert, jedes Foto kann aus dem Rahmen, dem Bildschirm, der Zeitung springen und sich in Bewegung setzen, jeder Gedanke kann sich in gespielte Szenen oder bunte Animationen verwandeln, von irischen Kinderbüchern und Folklegenden, von Comics im Stil von Tex Avery, Robert Crumb oder Disney: Wenn es keine Bilder gibt, dann lässt Temple welche kreieren, "alles ist möglich, was man sich ausdenken und mit einem Verbündeten erschaffen kann", sagte er auf dem Festival von San Sebastián, weshalb seine Filme auch die Grenzen des Dokumentarischen sprengen. "Crock of Gold - A Few Rounds with Shane MacGowan", wie der Film im Original heißt, ist genau das, eine Schatztruhe voller Ideen und ein paar Runden im Clinch mit dem Sänger und Song-Dichter, der alles zugleich ist, ein begnadeter Schöpfer, ein armseliges Wrack, ein melancholischer Poet, ein wüster Rebell, ein zärtlicher Patriot, der hier nie ausgestellt, sondern stets liebevoll umfangen wird.

Crock of Gold - A Few Rounds with Shane MacGowan, USA,GB und Irland 2020. Regie und Buch: Julien Temple, Kamera: Steve Organ, Schnitt: Caroline Richards, Animationen: Dave Ashby, Theo Nunn, Johnny Halifax, Ralph Steadman, Scarlett Rickard, Martin Kingdom. Verleih: Neue Visionen, 125 Minuten

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