"Shame" im Kino:Wie viel Sex braucht der Mann?

Spirale ins Selbstzerstörerische: Für den attraktiven Brandon ist Sex kein Lustgewinn, sondern die Zwangshandlung eines Süchtigen. Steve McQueen porträtiert in seinem hochgelobten Film "Shame" einen Menschen mit dem Krankheitsbild der Hypersexualität, auch Sexsucht genannt. Der Regisseur urteilt nicht - er bewahrt sogar die Sehnsucht danach, dass sich das Glück im Dreiklang von Sex, Eros und Liebe wiederfinden könnte.

Rainer Gansera

Ob es so etwas wie "Sexsucht" wirklich gibt, ist eine weiterhin umstrittene Frage. Der große Alfred Kinsey definierte eine Person mit angeblich abnormem Verlangen einmal ironisch als jemanden, "der mehr Sex hat als Sie". Und besonders im Fall des Mannes ist kaum auszumachen, wo jahrtausendealte Virilitätsprotzerei in eine Hormonstörung übergeht - und diese dann vielleicht in qualvolles seelisches Leiden.

"Shame" im Kino: Michael Fassbender als Brandon im Drama "Shame": autistisch auf sich selbst bezogen, immer auf der Flucht vor Gefühl und Seelenberührung.

Michael Fassbender als Brandon im Drama "Shame": autistisch auf sich selbst bezogen, immer auf der Flucht vor Gefühl und Seelenberührung. 

(Foto: Prokino Filmverleih)

Klar ist allerdings, dass die flächendeckende Sexualisierung der Gesellschaft, diese Dauerverfügbarkeit der Bilder und Körper, Opfer hervorbringt. Wie das Mobilitätsprinzip oft zum Stau führt und das Hygieneprinzip in die Vermüllung, so endet die Sexualisierung in Mechanik, in seelischer Leere und Selbsthass. Davon erzählt der britische Filmemacher Steve McQueen (nicht zu verwechseln mit dem namensgleichen Schauspieler) in seinem zweiten Spielfilm "Shame", der bei den Filmfestspielen in Venedig Furore machte.

Es beginnt mit der Faszination von Kälte und Kick. Jede Geste des smarten, attraktiven Brandon (Michael Fassbender) sieht anfangs nach Coolness aus. Ein Bewohner Manhattans, Mittdreißiger, Geschäftsmann, Prototyp einer hedonistischen Single-Existenz.

Wenn er morgens in der U-Bahn die hübsche junge Frau gegenüber in seinen Blick nimmt, dann flirtet er nicht mit ihr: Es geht eine Art Bannstrahl von ihm aus. Er deutet sein Lächeln nur an. Die Frau reagiert verwirrt. Sie schlägt die Beine übereinander, das Hin und Her der Blicke beunruhigt sie, ihr Atem geht schneller, da scheinen sich wild-erotische Fantasien in Gang zu setzen. Bis die Frau plötzlich wie aus einer Hypnose erwacht, über sich selbst erschrickt und davoneilt.

Eine alltägliche Szene, aber Steve McQueen filmt sie wie die Verheißung eines geheimnisvoll perversen Rituals. Mit geometrisch klaren, streng komponierten Bildern, die in ihrer Fähigkeit, zugleich Kälte und Erregungshitze zu evozieren, an Antonioni erinnern.

Meisterlich in Szene gesetzt

An das Paradox einer taktilen Sinnlichkeit, die Sinnlichkeits-Entfremdung mit elektrisierten Fingerspitzen auf der Haut nachzeichnet. Aseptische Kühle charakterisieren Brandons Apartment und sein Büro. Beide Räume befinden sich in Hochhauskomplexen, mit Blick auf Straßenschluchten oder den Hudson-River. Warten auf den Kick, in Transit-Räumen: "Shame" ist meisterlich in Szene gesetzt.

Und nach und nach wird klar: Das Krankheitsbild der Hypersexualität, hier wird es ernst genommen im Porträt einer Figur, in der sich Gesellschaftliches exemplarisch zuspitzt. Für Brandon ist Sex kein Lustgewinn, sondern eine Zwangshandlung, Spannungsabfuhr, autistisch auf sich selbst bezogen, immer auf der Flucht vor Gefühl und Seelenberührung. Obsessionell jagt er dem Sex hinterher wie andere dem Alkoholrausch oder dem Heroin-Flash.

Der Körper als Werkzeug

Wenn Brandon den Laptop aufklappt, begrüßt ihn sein Porno-Chatroom, sogar sein Bürocomputer ist - was zu Momenten peinlicher Entdeckung führt - von pornographischem Material verunreinigt. Dazu nicht-virtueller Sex zwischen Tür und Angel. Wenn der Quickie nicht klappt, ordert er eine Prostituierte, und zwischendurch wird - auch auf der Bürotoilette - masturbiert.

Woody Allens berühmter Slogan: "Sagen Sie nichts gegen Masturbation - es ist Sex mit jemandem, den man wirklich liebt", bietet Brandon keinen Trost: Er hasst sich. Der Titel "Shame" bezeichnet die bis zum Selbstekel gehende Scham des Süchtigen, der seine Obsession als peinigend und demütigend erfährt.

In Steve McQueens erstem Spielfilm "Hunger" (2008) verkörperte der in Heidelberg geborene, in Irland aufgewachsene Michael Fassbender einen IRA-Aktivisten im Hungerstreik: abgemagert bis aufs Knochengrippe, übersät mit Wunden - "ein Mann, der seinen Körper als Werkzeug verwendete und mit diesem Akt Freiheit erlangte" (McQueen). Auch in "Shame" wird der Körper wieder zum Werkzeug - aber diesmal durchtrainiert, makellos, eine Maschine für den Selbstgenuss, mit einer gefangenen Seele innendrin. Also wieder ein Leidenskörper, nur auf andere Art.

Brandons Fassade ist die des souveränen Schönlings. Wenn er mit seinen Kollegen auf Kneipentour geht, mühen diese sich ab mit der Kommunikation, als Frauenversteher und Anmachkönige. Er sagt kein Wort, er wüsste auch gar nicht, was er mit einer Frau bereden sollte. Doch seine Physis und sein Geheimnis reichen aus, um am Ende der zu sein, der nicht allein nach Hause geht. Und wenn die Frauen dann mitspielen, geht es beim Sex so rasch und ruppig zu wie in seinen Pornoclips. Das Phantasma überschwemmt die Wirklichkeit, will tyrannisch regieren.

Intimität wirkt bedrohlich auf diesen Mann. Wenn er ihr nicht mehr ausweichen kann, reagiert er wie ein gefangenes Tier; und wenn er sich bewusst darauf einlässt, im Zuge der Selbsttherapie, wie beim Date mit einer warmherzigen Arbeitskollegin, ist er sexuell blockiert. Er braucht Verfügungsobjekte, wie in Fellinis "Casanova" wäre sein ideales Objekt der Begierde eine mechanische Puppe.

Urbane Einsamkeit

Zur Katastrophe kommt es, als Brandons jüngere Schwester (Carey Mulligan) in seinem Apartment Unterschlupf sucht. Sie braucht seine Schulter, um ihren Kopf dran zu lehnen. Sie hat Liebeskummer, ist suizidgefährdet, singt in einem Nachtclub die melancholischste Version des Sinatra-Hits "New York, New York" und entlockt ihrem Bruder eine Träne. Erinnerung an Kindheit, an Familiäres - aber die Stimmung kippt wieder in Abwehr, Zorn, Flucht. Brandon joggt durch die mitternächtlichen Straßen Manhattans, und die Kamera fasst das in eine wunderschöne und todtraurige Passage urbaner Einsamkeit.

Der Körper ist für Brandon ein Kondensator, in dem sich Spannungen aufbauen, die abreagiert werden müssen. Diese Logik übersetzt McQueen in die dramatische Alchemie seiner Plansequenzen, folgt der Spirale ins Selbstzerstörerische. Wenn er sich als "Moralist" bezeichnet, dann heißt das nicht, dass er über seine Figuren urteilt. Er zeigt Zustände mit der Präzision eines Forschers, lässt Seelenlagen spürbar werden. Im Negativbild von Brandons Sexsucht bewahrt er die Sehnsucht danach, dass sich das Glück im Dreiklang von Sex, Eros und Liebe wiederfinden könnte.

SHAME, UK 2011 - Regie: Steve McQueen. Buch: Abi Morgan, Steve McQueen. Kamera: Sean Bobitt. Musik: Harry Escott. Mit: Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie. Prokino, 100 Minuten.

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