Wer im Krieg das Töten, das legitime Verbrechen erlernt hat, kommt im Frieden schlecht klar. Soldaten, also männliche, haben zumindest die Wahl. Sie können sich benehmen - üblich, aber fürs Theater uninteressant. Sie können Diktatoren werden - siehe Shakespeare. Sie können Freikorps gründen - siehe deutsche Geschichte. Sie können die Gewalt ins Privatleben verlagern. Aber was bleibt einer weiblichen Kampfmaschine, noch dazu in der Zeit der Englischen Rosenkriege? Das fragen Autorin Katja Brunner und Regisseurin Pınar Karabulut in ihrer Shakespeare-Überschreibung "Richard Drei". Und sie landen damit am Schauspiel Köln einen klugen, tragikomischen Volltreffer.
Zwar liegt es im Trend, die Rolle des Bösewichts Richard III. weiblich zu besetzen, zuletzt spielte ihn Lina Beckmann bei den Salzburger Festspielen. Neu und bestechend logisch ist aber, warum hier gerade eine Frau, eine Soldatin, furios gespielt von Yvon Jansen, eine der größten Mordserien der Dramengeschichte in Gang setzt: Der Krieg hatte Freiheit für sie bedeutet, in Brunners Neudichtung, Freiheit von den Zwängen einer Frauenrolle: "Die Auflösung der Differenz von Idee meines Geschlechts und Realität fand ich im Kampf, nah und fern", doziert Jansen, die in einem stahlblauen Hybrid aus Kleid und Samthose (Kostüm: Claudia Irro) am Bühnenrand auf- und abschlendert.
Nach dem Blutrausch im Krieg nun in eine Frauenrolle zu schlüpfen, dienend, sexuell gefällig, familiär sorgend, ist für sie eine Zumutung. Ihre einzige Option: Richard wird Superschurkin und greift nach der Macht! Sie setzt eine Maschinerie aus Mord und Intrigen in Gang, die sich nicht mehr stoppen lässt.
Die Zeitgeschichte bricht ins Theater ein, ohne dass jemand "Putin" sagen müsste
Die Regisseurin des Abends, Pınar Karabulut, ist sehr gefragt. 2020 kam sie ins künstlerische Leitungsteam der Münchner Kammerspiele. Im Mai ist ihr Abend "Like Lovers Do" als eine der Top-Ten-Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen - eine längst überfällige Würdigung für eine Künstlerin, die die deutschsprachige Theaterlandschaft seit Jahren wohltuend aufmischt. In Köln fährt sie ganz große Theatermagie auf, nicht ohne sie ironisch zu brechen: Flüche werden von Blitz und Donner flankiert, bei Hofe herrscht neonbunte, queere Pop-Ästhetik, Richard rauscht in einem wagnerhaften Schwanenmobil durch die Disneyschlosskulissen von Bühnenbildnerin Michela Flück. Zugleich inszeniert Karabulut sehr zugewandt, führt ihre Figuren bei aller Komik nicht vor, lässt sie Menschen bleiben, wenn auch kaputte.
Die Titelheldin lügt, betrügt, verführt, verhöhnt, mordet und lässt morden bis die Machtübernahme gelingt, bis sie Königin wird, oder "Könixin", wie es bei Brunner poetisch gegendert heißt. "Richard Drei" ist das Porträt eines Machtmenschen außer Kontrolle. Damit bricht die Zeitgeschichte ins Theater ein, ohne dass irgendjemand "Putin" sagen müsste.
Die Schweizer Autorin Katja Brunner, Jahrgang 1991, kombiniert in ihrem Hochgeschwindigkeitstext analytische Schärfe mit der Lust an der Sprachpiraterie. Das erinnert an Elfriede Jelinek und ist doch ganz eigen. Ebenso ihre Kunst, in Mikro-Abschweifungen aus dem Redeschwall Diagnosen einer Menschheit auf Abwegen abzufeuern. Ein Beispiel: "Bleib bei dir, hab Geduld!", ruft Richard ihrem Bruder und potenziellen Konkurrenten Clarence (Lola Klamroth) zu, als dieser abgeführt und in den Kerker gesteckt wird. Nicht nur, dass Richard selbst hinter der Festnahme steckt. Sie hat auch noch die Dreistigkeit, ihren Bruder in allerschlimmstem Achtsamkeits-Sprech aufzumuntern. Eingesperrt im Tower "bei sich" zu bleiben, das bringt den Grundwiderspruch angesagter Ratgeber-Philosophie auf den Punkt: Gesellschaftliche Zwänge, die die Menschen quälen, werden ignoriert. Empfohlen wird stattdessen ein positiveres Mindset und individuelle Haltungs-Optimierung. Muss noch erwähnt werden, dass Clarence den Abend nicht überlebt?
Yvon Jansen gibt der Mordgeschichte eine geradezu unverschämte Leichtigkeit. Mit elegantem Spott über Hof und Tradition lockt sie das Publikum auf Richards Seite, flirtet, droht, lästert, rationalisiert, triumphiert. Wie's drinnen aussieht, das deuten nur die albtraumhaften Filmtableaux von Videokünstlerin Susanne Steinmassl an, die das Bühnengeschehen flankieren. Hier mutieren Porträts der Adeligen in Ölbildästhetik zu Horrorszenarien, etwa wenn Richard Kinderpuppen bluttriefend die Köpfe abbeißt.
"Richard Drei" zeigt, was zeitgemäßes Schauspiel sein kann, wenn es nur will: ein uralter Stoff, der bis heute in seinen Bann schlägt; ein Team, für das Feminismus und genderfluide Besetzung so selbstverständlich sind, wie das Denken in Hashtags und das Spielen mit der TikTok-Ästhetik; eine Sprache, die alle Geschlechter selbstbewusst mitdenkt und -spricht; ein Theater, das sich traut, neue, junge Dramatik auf die große Bühne zu holen; und eine Inszenierung, die angesichts des Zustands der Welt hysterisches Lachen und Schmerz zusammen bringt.