Sexuelle Gewalt:Schwarzer über Kölner Silvesternacht - Ahnung statt Analyse

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Alice Schwarzer

Alice Schwarzer sieht in den Tätern von Köln schriftgläubige Scharia-Muslime.

(Foto: dpa)

In dem Sammelband "Der Schock" macht sich die Feministin daran, die Hintergründe der Taten aufzudecken. Leider geraten die Erklärungen allzu spekulativ.

Buchkritik von Paul Katzenberger

Eines muss man Alice Schwarzer lassen: Sie ist in ihrer Haltung sehr konsistent, was sich zum Beispiel in ihrer Warnung vor einer falschen Toleranz gegenüber dem Islamismus zeigt. Ein halbes Jahr nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York vom September 2001 schrieb sie in dem Sammelband "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz": "Die islamistischen Kreuzzügler sind die Faschisten des 21. Jahrhunderts - doch sind sie vermutlich gefährlicher als sie, weil längst global organisiert."

Die Gefahr, die nach Ansicht der Feministin von diesen "Faschisten des 21. Jahrhunderts" ausgeht, sah sie schon damals vor allem durch den hohen Organisationsgrad islamistischer Terrorgruppen begründet. Dieses Argumentationsmuster wiederholt sich nun in ihrem Sammelband "Der Schock - Die Silvesternacht von Köln", wenn sie die sexuellen Übergriffe gegen Frauen auf der Kölner Domplatte in der Neujahrsnacht 2016 vor allem als eine konzertierte Aktion junger Männer aus den Maghreb-Staaten deutet.

Von Schwarzer selbst stammen vier der elf Beiträge des Buches. Drei davon sind Nachdrucke (unter anderem der genannte Beitrag aus "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" von 2002), einen hat sie aus Anlass der Vorgänge von Köln neu verfasst: "Silvester 2015, Tahrir-Platz in Köln".

Was im Klappentext etwas protzig als "minutiös recherchiert" bezeichnet wird, ist von den Fakten her nicht mehr als das, was inzwischen allgemein bekannt ist.

Schwarzer beschreibt das Versagen der Polizei, die die Übergriffe erst nicht bemerkt haben wollte und ihre Erkenntnisse schließlich nur sehr widerwillig veröffentlichte. Die Autorin stellt auch Fragen zur Verantwortung im Polizeiapparat und sie wirft NRW-Innenminister Ralf Jäger sowie den Medien vor, eine unglückliche Figur gemacht zu haben.

Quellen aus erster Hand

Ein Pluspunkt des Beitrags ist es, dass es Schwarzer gelingt, das "Inferno" von Köln in seiner bedrückenden Dimension anschaulich zu beschreiben - indem sie das Geschehen durch die Augen einer Mutter und ihrer 15-jährigen Tochter erlebbar macht.

Kaum zu widersprechen ist Schwarzer bei ihren Grundannahmen. Als erwiesen gilt mittlerweile, dass es sich bei den Tätern mehrheitlich um Marokkaner und Algerier handelt, wie sie schreibt.

Und belegt ist auch ihre Feststellung, dass sich der Mob von Köln über soziale Netzwerke organisierte. Schwarzer beruft sich dazu auf Quellen aus erster Hand - von Justizminister Heiko Maas über Innenminister Thomas de Maiziere und BKA-Chef Holger Münch bis hin zum Kölner Polizeipräsidenten Jürgen Mathies.

Doch dann verliert sie sich in Deutungen, die sie nicht angemessen belegen kann. Vor allem in der These, dass die Täter von Köln in ihren Herkunftsländern einer Gehirnwäsche ausgesetzt waren, die sie zu schriftgläubigen Scharia-Muslimen gemacht habe, die einem Überlegenheitswahn gegenüber dem Westen verfallen seien. Und die deswegen aus religiösen Motiven heraus Frauen prinzipiell erniedrigen wollen - auch durch sexuelle Gewalt.

Alkoholisierte Scharia-Muslime?

Waren die Täter von Köln solche Männer? Oder bestand die Meute auf der Domplatte nicht einfach nur aus Frustrierten aus patriarchalisch geprägten Gesellschaften, die ihren Frust am letzten Tag des Jahres ausleben wollten?

Für letzteres spricht, dass viel Alkohol im Spiel war - auch das geht aus Zeugenaussagen hervor, was Schwarzer selbst schreibt. Zu schriftgläubigen Scharia-Muslimen passt das nun nicht unbedingt - doch die Autorin beirrt das nicht. Sie tut diesen offensichtlichen Widerspruch kurz und knapp als Doppelmoral ab, ohne das näher zu erläutern.

Stattdessen beruft sie sich auf den französischen Islam-Experten Gilles Kepel, der den Begriff des "Dschihadismus von unten" oder des "Dschihadismus der dritten Generation" prägte, um damit das Phänomen eines militanten Islams zu beschreiben, der entwurzelte und haltlose Männer für sich zu gewinnen suche, indem er ihnen Identität und Ziel gebe.

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