Süddeutsche Zeitung

Sexismusdebatte:Hat keine was gesagt?

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Als Nachtrag zum Fall Matzneff: Was seinerzeit passierte, wenn man versuchte, auf kulturbeflissenen Sexismus hinzuweisen.

Gastbeitrag von Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge

Der französische Schriftsteller Gabriel Matzneff sagte 2009 einmal in einem Interview, dass er jungen Mädchen ab vierzehn Jahren gern die tägliche Lektüre seiner Bücher verordnen würde. Nirgendwo könnten sie so viel über sich selbst erfahren wie in seinen Romanen und veröffentlichten Tagebüchern. Spätestens seit dem Erscheinen des viel beachteten Romans "Die Einwilligung" von Vanessa Springora (2020) ist klar, dass sich Matzneff da geirrt hat. Springora wirft ihrem ehemaligen, seinerzeit fünfzigjährigen Liebhaber vor, ihre Gefühle als Teenager missbraucht zu haben.

Seitdem will niemand jemals etwas zu tun gehabt haben mit dem gehätschelten Star der Pariser Literaturszene, der seine Amouren mit minderjährigen Jungen und Mädchen jahrzehntelang zu Literatur verarbeitet hat. Auch nicht der entnervt zurückgetretene stellvertretende Pariser Bürgermeister Christophe Girard. Eine persönliche Widmung von Matzneff ("à mon ami") ließ seine Aussage, er habe den Schriftsteller nicht näher gekannt, nicht mehr so recht glaubwürdig erscheinen.

Dabei ist Matzneff wahrhaftig nicht der Einzige, der die Idealisierung von Kindfrauen unter großem Beifall betrieben hat. Was er literarisch machte, hat David Hamilton filmisch und fotografisch umgesetzt. Auch wenn heute nur noch wenige mit dem Namen etwas anfangen können - in den 1970er- bis 90er-Jahren war das ganz anders. Man konnte an kaum einem Postkartenstand, Posterverkauf oder Kino vorbeigehen, ohne auf Bilder von Hamilton zu stoßen. Nicht nur Mädchenzimmer, auch Chef(redakteurs)büros zierten Hamilton-Poster. Zumindest, bis die neuzeitlichere Ästhetik der Warhol'schen Marilyn-Monroe-Drucke sie verdrängte.

Hamiltons Markenzeichen war die Technik des Weichzeichners. Er setzte sie hauptsächlich ein, um junge Mädchen zu fotografieren und zu filmen. Sehr junge Mädchen. Die Mädchen sind selten ganz nackt, wenngleich sehr viel von ihren jungfräulichen Körpern zu sehen ist. Oft sind sie in aufwendig inszenierten Umgebungen platziert. Heile Landschaften, in denen schon mal Schafherden weiden, und Räume mit alten Möbeln und Accessoires evozieren eine vor-emanzipatorische Welt.

Träume von oder über junge Mädchen? Für einige war die Arbeit mit Hamilton ein Albtraum

Auch Hamilton hat sich wohl geirrt, wenn er meinte, die Träume seiner jungen Modelle zu kennen − "Mädchenträume" ist der Titel eines seiner Fotobände. Träume von jungen Mädchen oder über junge Mädchen? Für einige von ihnen war die Zusammenarbeit mit ihm offensichtlich ein einziger Albtraum. Jedenfalls haben mehrere seiner ehemaligen Modelle als erwachsene Frauen Vorwürfe gegen ihn erhoben, sie sexuell missbraucht zu haben. Die Journalistin Flavie Flament, auch ein ehemaliges Modell, veröffentlichte 2017 ihr Buch "La consolation" mit harten Anschuldigungen gegen den Starfotografen. Anschuldigungen, die gerichtlich nicht mehr geklärt werden konnten. David Hamilton setzte kurz nach Erscheinen des Buches seinem Leben ein Ende.

Die heute peinlich anmutenden Elogen auf die Kindfrauen werden stets gerechtfertigt mit dem Argument, "die Zeiten" seien damals eben "so" gewesen. Schuld seien die 68er mit ihren libertären Ansichten zu sexueller Befreiung. Und es habe schließlich niemand etwas gesagt. Dass sich jetzt, Jahrzehnte danach, Frauen zu Wort meldeten, sei deren Sucht nach medialer Aufmerksamkeit geschuldet.

Hat niemand etwas gesagt? Vollkommen verschwiegen wird dabei, dass 1968 auch die Geburtsstunde des "neuen" Feminismus war und dass Feministinnen sich schon immer gewehrt haben gegen patriarchalische und sexistische Frauenbilder. Nur wurden sie einfach nicht gehört.

Im Fall Matzneff hat zum Beispiel die kanadische Schriftstellerin Denise Bombardier in den 90er Jahren im französischen Fernsehen in der berühmten Literatursendung "Apostrophes" den anwesenden Schriftsteller wegen seiner autobiografischen Erzählungen über Sex mit Minderjährigen öffentlich kritisiert. Wie gnadenlos sie abgewatscht wurde, kann man sich heute noch auf Youtube ansehen.

Noch Jahre später echauffierte sich Robbe-Grillet über die "Berlinoises de choc"

Auch Hamilton ist nicht erst von Flavie Flament diskreditiert worden. Schon vor 40 Jahren haben wir seine Fotos kritisch analysiert - in einer Fachzeitschrift für Frankreichforschung. Denn niemand Geringeres als der berühmte französische Schriftsteller Alain Robbe-Grillet hatte Texte zu zwei Fotobänden von Hamilton geschrieben. Und so lagen die schönen jungen Mädchen in ihrer heilen Puppenstubenwelt nicht nur in großen Folianten auf so manchem Coffeetable, sondern sie hielten auch Einzug in die damals noch junge Zeitschrift lendemains, die ihre 20. Nummer im Herbst 1980 Robbe-Grillet gewidmet hatte. Darin hatte der Herausgeber persönlich es sich nicht nehmen lassen, die Fotos von Hamilton in einem Aufsatz als "gewaltige Leistung im Bereich der Aufklärung und der Kunst" zu würdigen und ihnen das "Fehlen des männlichen Voyeur-Blicks" hoch anzurechnen.

Als Doktorandinnen der Romanistik schrieben wir damals zusammen mit unserer Kommilitonin Carola Deutsch eine Replik. Wir waren empört darüber, dass dem, durch Robbe-Grillet nobilitierten, voyeuristischen Fotokitsch nun auch noch frauenemanzipatorisches Potenzial bescheinigt wurde - ausgerechnet von einem romanistischen Literaturwissenschaftler, der auch noch unser Doktorvater (so sagte man damals) war.

Was dann geschah, ist sicherlich recht typisch für den Umgang mit feministischen Positionen: Unsere Replik wurde von diesem Professor als so niveaulos und unwissenschaftlich erklärt, dass sie gar nicht diskussionswürdig sei. Noch Jahre später ist für Alain Robbe-Grillet in seinem Memoirenband "Angélique oder die Verzauberung" (1987) dieser Vorfall ein Beispiel für die verheerenden Wirkungen des von ihm seitenlang kritisierten Feminismus. Militante Feministinnen, "Berlinoises de choc", so Robbe-Grillet, hätten dafür gesorgt, dass ein Berliner Hochschullehrer akademische Scherereien bekommen konnte.

Dass der von uns kritisierte, auf Lebenszeit verbeamtete Ordinarius irgendwelche Scherereien wegen seiner Position zu den Fotos von Hamilton bekommen haben sollte, ist uns nicht bekannt. Richtig Ärger allerdings bekamen wir drei Autorinnen. Da wurden Gutachten für die Verlängerung von Stipendien verweigert, und unsere fachliche Kompetenz wurde infrage gestellt. Unsere Suche nach neuen "Doktorvätern" (in der Romanistik gab es kaum Professorinnen) erwies sich als extrem heikel. Schließlich riss sich die deutsche romanistische Community nicht gerade um innovative Nachwuchswissenschaftlerinnen, schon gar nicht um gender-troublemaker.

Liest man unseren Aufsatz heute (eine Kopie findet sich auf der Website von Maren Kroymann), ist es geradezu auffällig, wie brav wir uns mit den 24 Fußnoten um die Einhaltung wissenschaftlicher Konventionen bemüht haben und vor allen Dingen - wie aktuell er ist. Was vor 40 Jahren eine interessante Debatte hätte werden können, wurde einfach nur zu einer schnöden Demonstration von Machtdiskursen. Wenn wir sie damals schon hätten führen können, wäre uns womöglich das Pathos und die Dramatik erspart geblieben, die heutige Gender-Debatten oftmals prägen.

Lieselotte Steinbrügge ist emeritierte Professorin für Romanistik und Fachdidaktik der Ruhr-Universität Bochum. Maren Kroymann ist als Schauspielerin und Kabarettistin bekannt.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2020
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