Süddeutsche Zeitung

Sex sells:Die kalte Lust

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Nach den Enthüllungen um Sibel Kekilli: Wie sich die Künste und die Pornographie zunehmend näher kommen.

Von Christopher Schmidt

Am vergangenen Montag beschämte die Bild-Zeitung die ahnungslose deutsche Filmkritik mit der Enthüllung, dass Sibel Kekilli, die weibliche Hauptdarstellerin in Fatih Akins Film "Gegen die Wand", der am Wochenende bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden war, unter dem Künstlernamen Dilara in der Vergangenheit in mehreren Pornofilmen mitgewirkt habe.

Ahnte man nicht, dass im Springer-Blatt der investigative Instinkt stärker ausgeprägt ist als der cineastische, so könnte man daraus die Frage ableiten, ob die Bild-Redaktion die zeitgemäßeren Filmkenner beschäftigt, solche nämlich, die auch das apokryphe Frühwerk einer dem großen Publikum unbekannten Aktrice überblicken.

Demnach wären die Pornographisierung der Gesellschaft und die Vergesellschaftung der Pornographie mittlerweile so stark fortgeschritten, dass der ausgewiesene Experte des Metiers seine Recherchen in Zukunft auf ein Genre ausdehnen muss, welches traditionellerweise nicht in seine Zuständigkeit fällt.

Näher liegt allerdings die Vermutung, dass Bild einen Tipp vom Produzenten der Pornofilme erhalten hat. Zwar dementiert die Firma Magmafilm GmbH dieses, was sie aber nicht daran hindert, am frischen Ruhm ihrer einstigen Entdeckung mitverdienen zu wollen: Eine Sonderedition des pornographischen Werks von Sibel Kekilli wurde bereits angekündigt.

Die Vorstellung, Berlinale und Goldener Bär könnten einem Pornoproduzenten bei seinem Marketing helfen, lädt zu aberwitzigen Gedankenspielen ein. Schließlich ist es mehr als fraglich, ob sich der gemeine Pornokonsument vor den Regalen des gut sortierten Fachhandels bei seiner Kaufentscheidung von einem Werbeaufkleber, der die künstlerischen Meriten der Darsteller hervorhebt, beeinflussen ließe.

Zwar ist die Pornographie wenn überhaupt eine "korrumpierte Kunstform" und "durch und durch unecht", wie Philip Roth in seinem letzten Roman "Das sterbende Tier" schreibt, aber auch sie ist Schauspielerei. Trotzdem haben die späteren Leistungen einer Künstlerin für ihre Befähigung auf dem ganz anderen Gebiet der Pornographie nur geringe Aussagekraft.

Die Sensation, auf die Kekillis frühere Mentoren bei Magmafilm spekulieren, liegt vielmehr darin, eine Person des öffentlichen Lebens, die man aus einem seriösen Kontext kennt, entblößt zu sehen, besonders aber das gemeinhin unerreichbare Idol, eine Ikone der Unberührbarkeit, sexuell verfügbar zu wissen - das beweist die unerhörte Beliebtheit der Look-alike-Pornographie im äußerst ausdifferenzierten Pornomarkt, welche die Illusion erzeugt, Celebrities wie Pamela Anderson oder Jennifer Lopez beim enthemmten Sex zu erleben. Und darum war es, um das voyeuristische Potential der Skandal-Geschichte voll ausschöpfen zu können, unerlässlich, der Debütantin Kekilli sogleich das Attribut "Star" beizulegen.

Dass die wahlweise "sündige" und "süße" Kekilli nun gleichzeitig als Berlinale- und Porno-Star firmieren kann, zeigt allein schon, dass sich im geschichtsträchtigen Verhältnis von Kunst und Pornographie einiges verändert hat. Die Pornographie subsistiert längst nicht mehr als Paralleluniversum, sie hat ihr Ghetto verlassen und behauptet sich als selbstbewusste Dienstleistungsbranche.

Dabei imitiert die "Erwachsenenunterhaltung" Rituale der seriösen Kunst und hat sich Vieles von ihr angeeignet, einerseits den Glamour des Star-Kults und seiner illustren Galaabende, andererseits die passionierte Ernsthaftigkeit und den Autonomieanspruch, bis hin zum gebetsmühlenartig wiederholten Lippenbekenntnis der weiblichen Pornodarstellerinnen, sie würde nicht ausgebeutet, sondern täte das, was sie tut, aus einem inneren Bedürfnis heraus, ihr Beruf sei ihr Berufung und Mission.

Umgekehrt zapft die Kunst, die sich in ihrer Geschichte so oft gegen den Verdacht der Pornographie zur Wehr setzen musste, bereits seit einigen Jahren die Hardcore-Ikonographie an. Es ist, als wollten beide Sphären ihre Seelen tauschen.

Die Membran dieser Osmose ist die Popkultur, die es der Pornographie ermöglicht hat, ihren sexualpädagogischen Schafspelz abzustreifen, während sie die Kunst von ihrem Dinstinktionsgestus befreit hat. So sind es nicht zufällig die Videoclips der Popmusik, in denen die Mimikry der Pornoästhetik sich vollzieht, und darunter war Christina Aguileras Video zu ihrem Titel "Dirrrty" nur der bekannteste.

Als nächstes eroberte der Pornochic die Laufstege der Mode. Und am weitesten ist die Pornographie in Frankreich in den Mainstream eingesickert. Vor allem Bücher und Filme haben dort die Diskussion angefacht: Die Romane von Michel Houellebecq, Nelly Arcans "Putain" oder "La Vie sexuelle de Catherine M." von Catherine Millet. Im Jahr 2000 drehten Virginie Despentes und Coralie Trinh Thi ihren indizierten Film "Baise-moi", ein Jahr zuvor hatte der Pornodarsteller Rocco Siffredi, in der Branche so etwas wie der Eurofighter unter den Profi-Beschälern, seine Fähigkeiten erstmals einem künstlerischen Film zugute kommen lassen, in Catherine Breillats "Romance".

Inzwischen hat Breillat einen neuen Film mit Siffredi gemacht: "Anatomie de l'enfer". Aus der Bildenden Kunst sind noch die pornographischen Aufnahmen von Jeff Koons und seiner damaligen Frau, der italienischen Pornodiva Cicciolina in Erinnerung, in jüngster Zeit haben hingegen die pornographischen Bezugnahmen von Thomas Ruff, Terry Richardson oder Matthew Barney die Gemüter erregt, und vor kurzem ließ sich die Künstlerin Andrea Fraser beim Sex mit einem Kunstsammler filmen, unter der Bedingung, dass dieser die Kassette exklusiv erwirbt. Nicolas Stemann ließ in seiner Basler Inszenierung von "Dantons Tod" pornographisches Filmmaterial einspielen, während Christoph Schlingensief für seine jüngsten Theaterproduktionen eigens pornographische Szenen drehen ließ.

"Sex sells" - die angeführten Beispiele für die derzeitige Porno-Offensive in der Kunst belegen aber nicht, dass Pornographie mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert ist, im Gegenteil. "Gewöhnliche Pornographie ist die Ästhetisierung der Eifersucht", schreibt Philip Roth, und zugleich ihre "Anästhesierung", denn der Mann der begehrten Frau im Pornofilm sei nicht unser Rivale, sondern unser Komplize und Stellvertreter. Er mildere den Schmerz der unerfüllten Sehnsucht.

Roth hebt den entscheidenden Aspekt der Pornographie hervor, dass sie entgegen ihrer Beteuerungen nicht zur Sexualität anregt, sondern sie ersetzt. Weil sie Ersatzbefriedigung schlechthin ist, taugt sie zur Chiffre für die ungestillten Sehnsüchte unserer Zeit schlechthin. Sie gehört nicht in den Bereich der Kunst, sondern in den Bereich der Massage, schrieb mal ein Verteidiger der Pornographie, und gerade die Genügsamkeit ihrer Konsumenten zwingt der Pornographie eine starre Regelästhetik auf, die ihre Handlung, so Wladimir Nabokov, auf "die Kopulation von Klischees beschränkt".

In seinen Ausdrucksmitteln ist der Pornograph so arm wie der Modelleisenbahner, und deshalb sei die pornographische Massenbewegung als "zubehörintensives Hobby der Unterschicht" dem spießigen Geist des Heimwerkertums verwandt, das es weitgehend ersetzt hat, schreibt Max Goldt. "Auch ihr Vorläufer, die Modelleisenbahn, war nie wirklich gesellschaftsfähig."

Um der Pornographie schillernde Ambivalenz zu entlocken, muss ihre prosaische, warenförmige Realität kaschiert werden. Während mediale Trittbrettfahrer die willkommene Chance erkannt haben, ihr biederes Image durch Solidaritätsadressen an Sibel Kekilli zu korrigieren und sich der amerikanische Teenie-Star Simon Rex als ehemaliger Pornodarsteller outet, hat die Berlinale-Leitung einen Anwalt eingeschaltet.

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Quelle:
SZ vom 21.02.2004
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