Serie Zwischenstopp:Waldwege

In der SZ-Literaturserie schreibt der polnische Autor Matthias Nawrat, wie er mit dem Mountainbike unterwegs ist, über die Zweckfreiheit der Natur nachdenkt und in Treblinka eine unerträgliche Leichtigkeit verspürt.

Für unsere Sommerserie haben wir Autorinnen und Autoren um Texte über Transiträume und Haltestellen aller Art, Orte des Aufbruchs oder Innehaltens in nah und fern gebeten.

15. August, Weiterfahrt nach Lublin

Wir liehen uns Mountainbikes von einem Mann in Jogginghose, auf dessen Hof sich mir ein Hund an einer Leine entgegenwarf. Beide Mountainbikes knackten, als L. und ich in das kleine Waldstück hinter dem Yachthafen bogen. Das Knacken kam bei meinem aus der Mechanik des Kugellagers und aus der Federung am Rahmen unterhalb des Sattels.

Wir fuhren auf einem sandigen Waldweg. Der Weg wurde zu einem zugewucherten Pfad durch das Unterholz und durch das Schilf. Wir mussten die Räder über einen umgestürzten Baumstamm tragen. Wir kamen an einer Feuerstelle vorbei und an einem zusammengefallenen Holzsteg am See. Dann wieder Baumstämme über dem Weg, Brennnesseln zur Waldseite, Schilf zur Seeseite, hier und da ein kurzer Blick auf den See und auf das gegenüberliegende Ufer. Auf einer Anhöhe legten wir unsere Decke aus und lagen mit Blick in die schwankenden Kiefernkronen.

L. sprach davon, dass sie eine Schwere verspüre, die sie nicht erklären könne. Wir lagen auf der Decke, mit dem rauschenden Kiefernkronendach über uns. Wir sprachen über die Zwecklosigkeit der Natur im Gegensatz etwa zu Stadtlandschaften. Die Natur, so meinte ich, sei immer sinnlos, es gebe keinen in sie vom Menschen hineingelegten Zweck, weshalb sie mir manchmal Angst machte. In der Natur hörte ich meine innere Unruhe und Lautstärke deutlicher, mein immer auf Zukunft und auf Zweck ausgerichtetes Denken. Die Natur beruhige sie, sagte L. Gerade die Zwecklosigkeit sei das Beruhigende an ihr.

Am Morgen brachen wir nach Lublin auf. So weit im Osten Polens war ich noch nie gewesen. Der Tag war in Polen ein Feiertag. Die Straßen waren leer, in den Dörfern fuhren wir an Leuten in Anzügen oder in schicken Kleidern vorbei, die in Grüppchen in Richtung Ortskern gingen. Vor einer Kirche sahen wir einen vollen Autoparkplatz. Später am Vormittag dann wieder ein paar Autos auf den Straßen, aber sie fuhren langsam und bogen im jeweils nächsten Ort ab. In einem Waldstück überholten wir vier alte Frauen auf Fahrrädern.

Plötzlich fuhren wir durch Treblinka. Die Straße war auf einmal besonders holprig, noch die alten Betonplatten, viele mit Asphalt nur dürftig gestopfte Schlaglöcher. Wir folgten wie selbstverständlich dem Schild zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers, in ein ruhiges, schönes Kiefernwäldchen. Man zahlte fünf Złoty Eintritt auf einem Parkplatz und durfte herumlaufen, zunächst auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers, dann über einen zwei Kilometer langen Waldweg zum Arbeitslager und zum "Execution Site". L. und ich gingen über die Wiese auf dem Gelände des Vernichtungslagers. Es standen hier keine Gebäude mehr (eine Tafel sagte, dass sich an dieser Stelle ein Zoo befunden hatte, für die SS-Männer, zur Entspannung). Dafür stand hier ein Feld von hinkelsteinartigen Grabsteinen, auf denen die Namen von Orten eingraviert waren, in Polen, der ehemaligen Tschechoslowakei, Russland, Ungarn, Bulgarien, der Ukraine. In der Mitte des Geländes, das von friedlichem Wald eingeschlossen war, stand ein Steinmonument, ein Pilz, in dessen Hut ein siebenarmiger Leuchter in den Stein eingraviert war. An seinem Fuße standen Grablichter. Ein merkwürdiges, unerträgliches Gefühl der Leichtigkeit verspürte ich, während ich über diese schöne Wiese durch den Sonnenschein ging.

Matthias Nawrat wurde 1979 im polnischen Opole geboren. 2017 erschien sein Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek".

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