Süddeutsche Zeitung

Serie "Was ist deutsch?":Wir schauen nicht weg, wenn es Probleme gibt

Erfahrungen aus einer Stadt in Sachsen, die mit Flüchtlingen und Nazis fertig wird.

Gastbeitrag von Dieter Greysinger

Wenn man mich fragt, was deutsch ist, dann denke ich an den Sommer 2014. An den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. Das war ein Schlüsselerlebnis. Ein ganzes Land hat gefeiert, egal ob Migrationshintergrund oder nicht. Für mich war das einer der emotionalsten "deutschen Momente" meines Lebens. Ein anderer war die Wende.

Ich bin gebürtiger Franke. Als die Mauer fiel, war ich 24 und für über ein Jahr auf Weltreise. Es hatte mich nach Ubud verschlagen, eine Kleinstadt auf Bali. Es gab keinen Strom, aber ich hatte einen Weltempfänger dabei und Ersatzbatterien. Ich reiste damals mit einem Holländer aus Eindhoven durch Indonesien, wir lauschten die ganze Nacht.

Im Juni 1990 kam ich zurück. Ich arbeitete damals bei einer Krankenkasse, und die fragten mich, ob ich nicht Lust hätte, im Osten über das soziale Netz aufzuklären. Was soll ich sagen: So eine Weltreise kostet Geld, und es gab damals die "Buschzulage". So kam ich von Franken ins mittelsächsische Hainichen.

Noch nie gab es so viele Herausforderungen zu meistern wie heute

Dieses Klischee vom Grau in Grau - das kann ich eigentlich nicht bestätigen. In Laos waren die Straßen auch schlecht, so etwas hat mich nie gestört. Ich ging dann in die "Gartenklause", und nach ein paar Bieren mit den Einheimischen war ich in Hainichen kein Fremder mehr. So unterschiedlich ist die Mentalität der Sachsen und Franken nun auch wieder nicht.

Seit 2004 bin ich Bürgermeister von Hainichen, und ich muss sagen: Noch nie gab es so viele Herausforderungen zu meistern wie heute.

In Hainichen leben derzeit 218 Flüchtlinge. Dazu kommen 240 aus der Nachbargemeinde. Das ist schon recht viel auf 8600 Einwohner. Im August haben wir zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Natürlich waren ein paar Schreihälse da.

Von denen bekommt man dann schon Parolen zu hören, die einem Sorge bereiten. An diesem Abend waren auch Vertreter des Landratsamtes, der Polizei und ein Journalist des Norddeutschen Rundfunks da. Alle sagten: Das war noch eine der gesitteteren Veranstaltungen. Wie sehen dann die ungesitteten aus?

Hier sind alle gleich: Männer und Frauen, Christen, Muslime, Atheisten

Ich habe Drohungen bekommen, das Bild eines Galgens zum Beispiel oder E-Mails, in denen man mir die Schuld daran gab, dass nun so viele Fremde nach Hainichen kommen. Aber ich schlafe deswegen nicht schlecht. Und seit die Flüchtlinge da sind, ist es sowieso viel ruhiger geworden.

Wir haben hier etwa 20 Menschen, die sich sehr intensiv um die Flüchtlinge kümmern, Deutschkurse anbieten, Freizeitgestaltung, so etwas. Die Flüchtlinge sind in einem Plattenbau untergebracht. Etwa 70 Einraumwohnungen. Ich habe selbst sieben Jahre dort gelebt, als ich 1990 nach Hainichen kam, und bin auch heute oft dort.

Die Kinder bekommen von mir einen "Hainrich" aus Plüsch, das ist unser Stadtmaskottchen, die Erwachsenen einen Stadtplan auf Deutsch und Englisch. Ich sage den Menschen: Ihr seid willkommen, aber es gibt ein paar Regeln. Hier sind alle gleich: Männer und Frauen, Christen, Muslime, Atheisten.

Inzwischen bin ich mit einigen Flüchtlingen bei Facebook befreundet. Die Leute vom Balkan machen eher ihr eigenes Ding, aber die Syrer sind sehr offen. Wir haben einen Zahnarzt, den wir förmlich beknien, dass er hier bleibt. In den kommenden fünf Jahren geht jeder zweite Zahnarzt in Hainichen in Rente. Aber die meisten Flüchtlinge wollen natürlich in den Westen, in die Ballungszentren.

Wir haben für die Flüchtlinge zahlreiche Fahrräder geschenkt bekommen. Und ein sehr deutsches, sehr komplizierte Einbahnstraßensystem haben wir auch. Wenn man hinters Rathaus fahren will, fährt man schon mal zwei Kilometer Umweg. Und was machen die Flüchtlinge? Das, was jeder am liebsten machen würde: Sie kürzen ab. Einen Unfall gab es schon. Dem Flüchtling ist nichts passiert, dem Auto schon. Und der Fahrer ist dann eben auf den Kosten sitzengeblieben, weil die Flüchtlinge nicht versichert sind.

Wir haben uns also zusammengesetzt - mit den Flüchtlingen - und haben Schilder gemacht: in fünf Sprachen, aufgehängt an den markanten Punkten. Das sind jetzt keine genormten Verkehrszeichen, aber den Kritikern nehme ich damit den Wind aus den Segeln. Ich gebe das Signal: Wir schauen nicht weg, wenn es Probleme gibt. Ich glaube, dass wurmt die Leute am meisten. So entstehen die vielen Gerüchte über Diebstähle und andere Übergriffe.

Und natürlich passiert manchmal wirklich etwas. Dann kann die Stimmung sehr schnell kippen. In Freiberg, 20 Kilometer entfernt, haben zwei Asylbewerber in einem Netto-Markt eine Angestellte mit Pfefferspray und einer Machete bedroht. Einen Einfluss auf das Asylverfahren hatte das nicht. Dafür haben die Menschen dann kein Verständnis.

Ich will kein Grundgesetz aushebeln und keiner Gesetzeswillkür Vorschub leisten - aber es muss eine Regelung gefunden werden, um besagte Personen nach einer solchen Tat zumindest einzusperren und im Rahmen eines Schnellgerichtsverfahrens die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie abgeschoben werden.

Fremdenfeindliche Gruppierungen gewinnen an Zulauf

Ich freue mich über die warme Aufnahme der Flüchtlinge, die Willkommenskommandos in München haben mich zu Tränen gerührt. Ich habe aber den Eindruck, das Land steht jetzt am Scheideweg. Wenn es nicht bald gelingt, den Zustrom zu begrenzen, dann riskieren wir, dass die Bevölkerung gegen uns marschiert. Sachsen ist da sicher ein spezielles Bundesland, und es gab Momente in diesem Jahr, da habe ich mich fast geschämt zu sagen, dass ich hier lebe.

Die NPD bekommt auch in Hainichen Stimmen, auch bei uns haben sich fremdenfeindliche Facebook-Gruppen gegründet. Ich werfe konsequent jeden aus meiner Freundesliste, der mit denen sympathisiert oder mit der NPD. Bei Pegida bin ich nachsichtiger. Das kann man meiner Meinung nach nicht einfach ignorieren. Dafür sind es zu viele. Dresden war einmal die schönste Stadt Europas für mich. Nun ist da dieser Schatten, den sie an der Elbe so schnell nicht loswerden.

Warum Pegida im Osten so stark ist? Ich habe viel darüber nachgedacht und keine abschließende Antwort gefunden. Ich wehre mich dagegen, alles auf die Wende zu schieben. Ja, die Industrie ist zusammengebrochen, viele Menschen wurden arbeitslos. Aber heute geht es den Leuten doch gut. Arbeitskräfte werden gesucht.

Am ehesten kann ich mir denken, dass die Menschen Angst vor Veränderung haben. Sie haben sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Und wenn der Sachse sieht, dass etwas halbwegs läuft, dann bleibt er am liebsten dabei. Wann wird hier denn mal ein Bürgermeister abgewählt? Ich profitiere streng genommen ja auch von dieser Sehnsucht nach Beständigkeit.

Als Deutsche müssen wir unsere Vergangenheit immer mitdenken

Ich persönlich glaube an Veränderung. Man stelle sich vor, dass Deutschland noch so spießig wäre, wie ich es in den Siebzigerjahren erlebt habe. Die Aufarbeitung der Naziverbrechen hat mich stark geprägt. Ich war mehrmals in Auschwitz und jedes Mal zutiefst betroffen. Als Deutsche müssen wir unsere Vergangenheit immer mitdenken.

Jedes Jahr fahren Schüler aus Hainichen nach Weimar. Dort besuchen sie auch das KZ Buchenwald. Seit ich Bürgermeister bin, habe ich mir immer die Zeit genommen, dort mitzufahren. Auch um zu zeigen: Das hier ist nicht nur ein Schulausflug. Das hier ist wichtig.

Mittlerweile sind wir ein angesehenes Land. Deutschland, die gut geölte Maschine. Das ist das Bild, das die Welt von uns hat. Ich habe 120 Länder bereist. Gerade in Holland oder Frankreich begrüßten mich die Leute früher schon mal mit "Heil Hitler".

Letztes Jahr war ich in Kirgisistan und Kasachstan. Da bin ich in Almaty mit dem Mietauto über die durchgezogene Linie gefahren, um zu wenden, und von der Polizei angehalten worden. Die Beamten sprachen kein Wort Englisch, aber als ich ihnen beibrachte, dass ich aus Deutschland komme, da lachten sie, sagten: "Ah, Angela Merkel". Und ließen mich fahren.

Dieter Greysinger ist seit 2004 Bürgermeister der Stadt Hainichen in Sachsen. Protokoll: Ulrike Nimz

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Quelle:
SZ vom 29.12.2015/fela
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