Serie "Was ist deutsch?":Warum Flüchtlinge KZ-Gedenkstätten besuchen sollen

Gedenkstätte Sachsenhausen

Eine Schülergruppe beim Besuch der Gedenkstätte Sachsenhausen in Brandenburg

(Foto: dpa)

Wer Deutscher werden will, darf den Holocaust nicht leugnen. Das gilt auch für Neuankömmlinge, deren Herkunftsländer den Judenmord bestenfalls ignorieren.

Gastbeitrag von Volkhard Knigge

Ich bin häufig in Israel. Dort leben noch Menschen, die als Kinder Buchenwald überlebt haben. Schon vor über zehn Jahren warnte ein Teil der Kollegen und Freunde dort: Europäer und Deutsche seien naiv, sie unterschätzten die Gefahr extremistischer Muslime. Mit den Arabern kämen zwangsläufig Antisemitismus und Israel-Hass nach Deutschland, Intoleranz und Verachtung von kultureller Vielfalt, Liberalität und Demokratie. Nun hat auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland dieser Beunruhigung Ausdruck gegeben und eine Obergrenze für Flüchtlinge gefordert.

Man mag die Sorge für überzogen halten und auf die Ungerechtigkeit hinweisen, eine ganze Gruppe von Menschen pauschal zu verdächtigen. Man mag vor sich selbst erfüllenden Prophezeiungen warnen und davor, dass sich Affekte und Vorurteile gegenseitig aufschaukeln. Aber es bleibt eine Tatsache, dass der Holocaust im arabischen Raum, wenn nicht bestritten, so doch vielfach ignoriert wird, während seine Anerkennung als Menschheitsverbrechen zur Staatsräson der Bundesrepublik gehört.

Deutschkurse und Holocaust-Education?

Wer im demokratisch-staatsbürgerlichen Sinn Deutscher sein will, ist deshalb geheißen, den deutschen Genozid an den europäischen Juden weder zu leugnen noch zu rechtfertigen, sondern sich zum antinazistischen Gründungskonsens der Bundesrepublik zu bekennen, also dem Grundgesetz und der Vorrangstellung der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Auch wenn Rechtsextreme und Rechtspopulisten daran rütteln und es Initiativen gegeben hat, sich von der angeblichen Last der Geschichte zu befreien, gilt dies nach wie vor.

Was heißt das aber für den Umgang mit Flüchtlingen, für deren Hiersein und Integration? Sollen sie nicht nur Deutschkurse absolvieren, sondern auch Holocaust-Education nachweisen? Den erfolgreichen Besuch von KZ-Gedenkstätten wie Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Neuengamme oder Sachsenhausen? Können KZ-Gedenkstätten gegen islamischen Extremismus immunisieren?

Vermutlich wird es nicht lange dauern, bis die Forderung erhoben wird, Flüchtlinge aus arabischen Ländern müssten präventiv oder zur nachträglichen Läuterung die ehemaligen Gewaltorte besuchen. Denn diese Forderung hat Routine. Sie wird regelmäßig auch nach rechtsextremen Übergriffen erhoben. Nur hat verordneter Antifaschismus schon in der DDR nicht funktioniert. Und er funktioniert auch nicht in der Bundesrepublik. Das belegen Gedenkstätten-Pflichtbesuche. Warum sollte also verordneter Antiislamismus klappen?

Ist ein Clash of Cultures programmiert?

Folgt daraus, dass ein geschichtskultureller Clash of Cultures programmiert ist? Die Antwortet lautet Nein - unter drei Voraussetzungen. Die erste besteht darin, politische und kulturelle Unterschiede ernst zu nehmen, aber nicht in die Falle eines Generalverdachts zu tappen. Flüchtlinge sind keine homogene Masse. Es gibt unter ihnen solche, die sich mit dem Arabischen Frühling identifiziert haben. Zudem sind diese Menschen von ihrer Fluchterfahrung gezeichnet, zu der oft Entwürdigungen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gehören: als Fluchtgrund, in Lagern, durch Schlepper, an den europäischen Grenzen - von brennenden Unterkünften in Deutschland nicht zu schweigen.

Eine von diesen Erfahrungen unberührte arabische Sozialisation zu unterstellen, wäre ebenso irrig, wie diese auszuklammern. Zudem erfordern Attentate wie die von Paris nicht nur Aufmerksamkeit für das Gewaltpotenzial islamistischer Ideologie, sondern auch Selbstreflexion. Welcher Umgang mit Flüchtlingen, mit Minderheiten lässt sich für die Propagierung von Gewalt missbrauchen? Die Bereitschaft zur Selbstprüfung im Licht historischer Erfahrung war und ist ein elementares Moment der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik und ihrer demokratisierenden Wirkung.

Die zweite Voraussetzung ist deshalb, dass die Erinnerungskultur nicht verkürzt werden darf. Sie hat ja nicht nur eine normative Seite, sondern sie zielt - recht verstanden - auch darauf, politische und gesellschaftliche Ursachen zu begreifen, die autoritäre Herrschaft und Gegenmenschlichkeit begünstigen, legitimieren oder sogar zur Pflicht erklären.

Erinnerungskultur bedeutet also mehr als die Verordnung von rein kulturspezifischen Haltungen und Werten. Die Menschenrechte sind kein europäisches Vorrecht. Sie gehen in Europa zwar zurück auf die Erfahrungen von Weltkrieg und Schoah, aber diese Erfahrungen lassen sich berichten und teilen, sie sind jenseits der eigenen Kultur anschlussfähig.

Die Erfahrung, dass die absolute Zerschlagung der Grundsolidarität mit dem Menschen als Mensch möglich ist, so wie sie in der Schoah realisiert wurde, hat Auswirkungen auf zivilisatorische und kulturelle Gewissheiten über Deutschland hinaus. Vorurteile entkräften kann der Befund, dass die Nationalsozialisten auch nichtjüdische Menschen aus arabischen oder muslimisch geprägten Ländern in die KZ deportierten; nach Buchenwald aus Ägypten, Algerien, Bosnien, Indonesien, Iran, Marokko und Syrien. Diese Verdeutlichung durch konkrete historische Beispiele unterscheidet die pädagogische Arbeit in Gedenkstätten vom bloß moralisierend erhobenen Zeigefinger oder von historisch entkernter Pietät.

Die Erfahrung mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Gedenkstätten zeigt, dass ein solcher Zugang zur deutschen Geschichte und ihrer weit über Deutschland hinausgehenden Wirkung Interesse, Teilnahme und Einsicht wecken kann. Denn Gedenkstätten erscheinen dann nicht als Institutionen, die im staatlichen Auftrag ein nationales Geschichtsbild überstülpen und damit verbundene Identitätserwartungen. Sie werden zu Foren, in denen historische Erfahrungen erschlossen und verglichen werden - mit ganz praktischen Konsequenzen.

Sorge und Solidarität balancieren

Eine junge Iranerin beispielsweise, die aus eigenem Antrieb an einer zweiwöchigen Sommerschule mit west- und osteuropäischen Jugendlichen teilnahm, kam mit der Frage, ob Hitler nicht auch Gutes getan habe. Die Vernichtung der Juden erkannte sie als historische Tatsache nicht an. Aber je länger sie sich mit der Geschichte der jüdischen Kinder im KZ Buchenwald beschäftigte, desto mehr erodierte ihre Auffassung.

Bereits mehrfach waren die Häftlinge aus Iran ein Anlass für iranische Juristen und Politiker, Buchenwald zu besuchen - und sich für die ganze Geschichte des Lagers zu interessieren. So wie die Geschichte des Novemberpogroms 1938 eine Gruppe von Pädagogen aus Istanbul veranlasste, heftig über Charakter und Bedeutung des türkischen Mordes an den Armeniern zu diskutieren.

Stärker als Ermahnungen und Beschwörungen

Für Jugendliche deutscher und nichtdeutscher Herkunft ist es immer wieder verblüffend, dass im Licht der Vergangenheit auch selbstkritisch über die Gegenwart nachgedacht wird, etwa über konkrete Erfahrungen mit Diskriminierung in ihrem Alltag. Das stärkt ihr Vertrauen in die Demokratie weit mehr, als alle Ermahnungen und Beschwörungen.

Die dritte Voraussetzung schließlich besteht darin, Sorge und Solidarität zu balancieren. Hier kann die Erfahrung des Nationalsozialismus helfen. Natürlich gewinnt man daraus keine unmittelbaren Handlungsanleitungen. Aber sie vermittelt, was man besser nicht tut, auch im eigenen Interesse: Ressentiments vergrößern Ängste. Rassismus und ethnischer Nationalismus schüren Gewalt. Auch der Rechtsstaat kann seinen Feinden die rote Karte zeigen. Integrationsforderungen können verfassungspatriotisch begründet werden, nicht ethno-kulturell. Die Forderung nach der Achtung der Menschenwürde ist aber nur so glaubwürdig wie der Staat und die Gesellschaft, die sich auf sie berufen.

Jenseits der Gedenkstätte fehlt oft die breite Erfahrung in der (pädagogischen) Arbeit mit Menschen aus arabischen Ländern. Hier können israelische Kolleginnen und Kollegen helfen. Seit den 1960er-Jahren arbeitet beispielsweise das Givat Havia Center for a Shared Society in Israel für die arabisch-israelische Verständigung. Es ist von Überlebenden Buchenwalds mitgegründet worden und hat den Unesco-Friedenspreis erhalten. Andere Partner sind auch in Europa zu finden.

Serie "Was ist deutsch?": Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Serie
Was ist deutsch?

Die Serie "Was ist deutsch?" behandelt Facetten und aktuelle Fragestellungen deutscher Identität. Erschienene Artikel:

Ohne denkbare Zusammenstöße wegzureden: Anstatt unüberbrückbare kulturelle Totalkonfrontationen zu imaginieren, wäre es konstruktiver, die entstandene Situation auch als Chance für die verständnisschaffende Kommunikation über historische Erfahrungen und Traumata zu begreifen, die in den Herkunftsländern kaum möglich wäre.

Volkhard Knigge ist Historiker, Geschichtsdidaktiker und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora.

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