Süddeutsche Zeitung

Serie "Was ist deutsch?":Der Nationalstaat ist tot, es lebe der Nationalstaat!

Kaum ein Land kämpft so mit dem Nationalbegriff wie Deutschland - Analyse einer Obsession.

Von Jörn Leonhard

Am 29. Mai 1949 zog Thomas Mann Bilanz. In seiner Rede über "Deutschland und die Deutschen" formulierte er aus der Perspektive des Exils, was aus dem deutschen Nationalstaat nach zwei Weltkriegen, Diktatur und Holocaust geworden war. Mann verwies auf eine verhängnisvolle Kontinuität in der Geschichte Deutschlands, die er aus dem Zusammenhang von Nationalstaatlichkeit, Krieg und Gewalt ableitete: "Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde."

Das vernichtende Urteil des Schriftstellers war der Logik des Rückblicks geschuldet, es entstand aus der tiefen inneren Erschütterung über den nationalsozialistischen Unrechtsstaat.

Weil der Nationalstaat durch zwei Kriege und beispiellose Gewalt jede Legitimation eingebüßt hatte, wurden in beiden deutschen Gesellschaften alternative Begründungen der Nation entwickelt, etwa in der Rückwendung zur kulturellen Einheit der Deutschen in Literatur, Kunst und Musik, im Appell an die Verantwortungsgemeinschaft der Deutschen für den Frieden in Europa oder seit den Siebziger und Achtziger Jahren in der Neuentdeckung der Geschichte: Während die DDR Friedrich den Großen neu entdeckte, wandte man sich in der Bundesrepublik den demokratischen Alternativen zum autoritären Machtstaat zu, feierte deutsche Jakobiner im Zeitalter der Französischen Revolution, das Hambacher Fest von 1832 und die Revolutionäre von 1848/49.

Die großen geschichtspolitischen Debatten der Bundesrepublik - sowohl die Kontroverse um die "Alleinschuld" des Deutschen Reiches am Ausbruch des Ersten Weltkriegs als auch der Historikerstreit um die Einzigartigkeit des Holocaust - verstärkten den kritischen Umgang mit Nation und Nationalstaat. Die alternativen Formeln des Verfassungspatriotismus, der reflexhafte Verweis auf Europa als Garantie dafür, nie wieder in die Gewaltgeschichte des Nationalismus zurückzufallen, oder nach 1990 die Rede von der "Berliner Republik" als "postnationalem Nationalstaat", die Idee der Läuterung, des Lernens aus der Geschichte auf dem "langen Weg nach Westen": All diese Formeln unterstrichen vor allem eine tiefe und anhaltende Unsicherheit.

Symptome großer Verunsicherung

So reicht der Schatten der deutschen Katastrophengeschichte bis in die Gegenwart. Die Denkmalslandschaft Berlins bildet diesen Umgang mit der Vergangenheit ab, die sich in den ungezählten Opfern und dem Kampf um ihre öffentlich sichtbare Anerkennung widerspiegelt. Jede Diskussion um eine Beteiligung deutscher Soldaten an "Auslandseinsätzen" - auch die jetzige -, die rhetorischen Strategien, um Begriffe wie "Krieg" und "Gefallene" zu umgehen, überhaupt die Schwierigkeit, eine Balance zwischen ökonomischer Macht und globaler Selbstpositionierung zu finden - all das sind Symptome eben jener Verunsicherung.

Die Generation, die selbst noch die Erfahrung der Gewaltgeschichte bis 1945 teilte, verwies auf einen besonderen "deutschen Sonderweg". Die vergleichsweise späte Gründung des deutschen Nationalstaates 1871, sein Ursprung aus Krieg und Gewalt und nicht aus einer geglückten demokratischen Revolution, ein politisch schwaches Bürgertum ohne historische Erfolgsmomente wie 1776 in den Vereinigten Staaten oder 1789 in Frankreich - all dies legte eine negative Kontinuität nahe vom Ende des 19. Jahrhunderts über die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die durch die Niederlage belastete Republik von Weimar bis zum Gewaltregime der Nationalsozialisten, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust.

Doch solche Meistererzählungen sind vom Ergebnis her erzählt, sie folgen der Logik des Rückblicks, und sie verkürzen in der Suggestion den Blick auf die vielen offenen Momente der vergangenen Zukunft, sei es 1871 oder 1918. Der Nationalstaat von 1871 war um 1900 sehr viel mehr als nur ein autoritärer Machtstaat. Er war auch ein Fortschrittsmodell als Rechts-, Verwaltungs- und Sozialstaat, als Gehäuse einer Wissensgesellschaft, die ein hohes Maß an globaler Vernetzung kennzeichnete. Und all das waren Errungenschaften, die ohne bürgerliche Modernitätsansprüche nicht zu erklären waren.

Geht man den Ursprüngen von Nationen und Nationalstaaten nach, dann stößt man nicht allein in Europa auf lauter Sonderwege. Die alte Vorstellung von westlichen Modellen mit erfolgreichen Revolutionen, egal ob 1689, 1776 oder 1789, und einer langen deutschen Defizitgeschichte von Nation und Nationalstaat in Deutschland ist suggestiv, aber sie greift in dieser Einseitigkeit nicht.

Auch andere Nationalgeschichten sind alles andere als homogen, friedlich und per se erfolgreich: Großbritannien erlebte in seinem Kolonialreich und in Irland gewaltsame Krisen. Das Erbe der Revolution von 1789 spaltete die französische Gesellschaft lange in deux France. Und mit der Unabhängigkeit von 1776 wurden in Amerika viele Konflikte vertagt, die später im Bürgerkrieg wieder blutig hervortreten sollten.

Was also bleibt vom typisch deutschen Umgang mit der Nation? Die Antworten der Historiker im Blick auf das 19. Jahrhundert als Inkubationszeit von Nation und Nationalstaat sind so vielfältig wie ihre ganz eigenen Perspektiven. Thomas Nipperdey begann seine Geschichte des deutschen 19. Jahrhunderts mit dem Satz "Am Anfang war Napoleon". Hans-Ulrich Wehler antwortete darauf in seiner Gesellschaftsgeschichte mit einem programmatischen "Am Anfang war keine Revolution". Und Heinrich August Winkler ergänzte die Trias in seinem Buch über den "Langen Weg nach Westen" mit dem Verweis: "Am Anfang war das Reich".

Egal, ob man die Besonderheit in der vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Erbe der Französischen Revolution in Deutschland sah oder der napoleonischen Flurbereinigung der deutschen Territoriallandschaft, im Manko einer bürgerlichen Revolution oder im langen Schatten des Reichsgedankens und der föderalen Vielfalt seit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation: Schon die Erbschaften und Leitmotive im Blick auf das 19. Jahrhundert sind und bleiben umstritten. Gerade das markiert eine deutsche Besonderheit im Umgang mit der Nation, und es erklärt auch einen Teil der deutschen Obsession mit eben dieser Geschichte.

Im Blick auf die Gewalterfahrungen seit 1914 und 1939/41 sollte sich das gebrochene Verhältnis zu Nation und Nationalstaat zuspitzen. In der ideologischen Übersteigerung von Nation und Reich markierte 1945 schließlich das Ende des klassischen deutschen Nationalstaates. Erst die doppelte Erfahrung von zwei Zerfallskriegen mit beispiellosen Opferzahlen hat Nation und Nationalstaat und das ihnen zugeordnete Legitimationspotenzial infrage gestellt.

Für keine Gesellschaft dürfte das so paradigmatisch gelten wie für die deutsche: Es war auch die verdichtete Katastrophengeschichte des frühen 20. Jahrhunderts zwischen 1914 und 1945, die Westdeutschland und nach 1990 das wiedervereinigte Deutschland für neue Formen transnationaler Integration und für einen bewussten Souveränitätsverzicht geöffnet haben. Dieser Verzicht wurde gleichsam zur Staatsräson der Bundesrepublik, nämlich als Voraussetzung für jede Rückkehr auf die politischen Bühnen nach 1945.

Ohne Zweifel trug diese bewusste Distanzierung von der eigenen Nationalgeschichte dazu bei, dass Europa, aus dessen kontinentaler Mitte der Zusammenhang von Krieg und Nation im 18. Jahrhundert im Wesentlichen entstanden war, ein Friedensraum wurde.

Bis zum Ende des Kalten Krieges sah Deutschland sich als friedlich, europäisch integriert. Und jetzt?

1945 endete für Deutschland das Zeitalter der totalisierten und totalen Kriege. In der Nische des Kalten Krieges, in dem sich Bedrohungsgefühl, Stabilität aus Abschreckung und Gewaltfreiheit verbanden, entwickelte sich ein komplizierter Umgang mit der Gewaltgeschichte der eigenen Nation. So setzte sich die schon nach 1918 begonnene Debatte um die Kriegsschuld Deutschlands 1914 in der frühen Bundesrepublik nach 1949 fort und wurde zu einem entscheidenden Referenzpunkt der geschichtspolitischen Selbstpositionierung der Westdeutschen nach der Erfahrung zweier Weltkriege.

Darin lag und liegt die besondere Bedeutung der Fischer-Kontroverse der Sechziger, des Historikerstreits der frühen Bundesrepublik. Die Debatte entzündete sich an der Position des Hamburger Historikers Fritz Fischer, der eine Hauptverantwortung des Deutschen Reiches für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs feststellte.

Wie stark seine Thesen offensichtlich in der deutschen Öffentlichkeit bis in die Gegenwart weitergewirkt haben, zeigte die Debatte des letzten Jahres. Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" wurde in Deutschland zwischen den Polen einer historischen Entlastung Deutschlands und dem Beharren auf "Alleinschuld" und "Schuldstolz" kontrovers diskutiert - offenbarte aber vor allem die anhaltende Verunsicherung, die sich im kollektiven Bewusstsein angesichts von zwei Weltkriegen eingegraben hat und auch nach 100 Jahren nicht verschwunden ist.

Schließlich stellten und stellen seit dem Ende des Kalten Krieges neue Kriege die deutsche Selbstdeutung als friedlicher europäisch integrierter, postnationaler Staat infrage. Erfolgte das Ende des Kalten Krieges noch im Zeichen relativ gewaltfreier Übergänge, so folgten aus dem Ende der Sowjetunion neue national und ethnisch begründete Gewalterfahrungen an den europäischen Rändern. Die Zerfallszonen der ehemaligen Imperien der Habsburgermonarchie, des Osmanischen Reiches und des Zarenreichs oder der Sowjetunion sind die Schlachtfelder dieser neuen Kriege geworden - Jugoslawien in den Neunzigerjahren, die Ukraine und der Nahe Osten in unserer unmittelbaren Gegenwart.

In diesen Kriegen gilt nicht mehr die Symmetrie des Kalten Krieges auf der Basis der atomaren Abschreckung. Für die Integration West-, Süd- und Ostmitteleuropas zwischen den Fünfziger und Neunzigerjahren war es das erfolgreichste Friedensprojekt der neueren Geschichte, indem es die im Namen von Nationen geführten Kriege der Vergangenheit durch Kooperation und Integration überwand. Nun ist dieses Projekt selbst in eine Krise geraten.

Viele entdecken heute die eigene Geschichte wieder - als Flucht oder um daraus zu lernen

So erleben wir seit dem Ende des Kalten Krieges eine ganz eigene Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen, die gerade die deutsche Verunsicherung im Umgang mit der Nation verstärkt. Einerseits gibt es viele Hinweise auf die Beschleunigung der supranationalen Integration und der Erosion des tradierten Souveränitätsbegriffs von Nationalstaaten. Wir erleben, wie der überkommene Nationalstaat des langen 19. Jahrhunderts in Westeuropa historisiert wird und aus zwei Richtungen an Bedeutung verliert - durch Souveränitätstransfers etwa an die Institutionen der Europäischen Union und zugleich durch neue Regionalismen, die sich wie in Schottland oder Katalonien zu Unabhängigkeitsbewegungen steigern.

Andererseits wirken Nation und Nationalstaat weiterhin als vielerorts entscheidende Referenzen in der Krise, sei es bei der Garantie von Spareinlagen oder der Sicherung von Staatsgrenzen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hat noch eine andere Dimension: Das Modell der supranationalen Integration in Europa ist auf die Exekutive, auf Institutionen fixiert und weist ein erhebliches Demokratiedefizit auf. Es vermittelt wenig emotionale, politisch-symbolische Überzeugungskraft.

In dieser Bündelung von Umbrüchen gehen in der Gegenwart viele Sicherheiten verloren. Das mag erklären, warum so viele Deutsche die eigene Geschichte wiederentdecken: manchmal als Flucht aus der bedrängenden Unübersichtlichkeit, manchmal auf der Suche nach Selbstvergewisserung und nach Lehren aus der Geschichte. Sie werden lernen müssen, dass man aus den Wegen und Umwegen von Nation und Nationalstaat in der Vergangenheit keine einfachen Handlungsanweisungen für die Gegenwart ableiten kann. Man sieht nur mehr.

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Universität Freiburg. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die Büchse der Pandora - Geschichte des Ersten Weltkrieges" (Beck-Verlag).

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Quelle:
SZ vom 04.12.2015/cag
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