Süddeutsche Zeitung

Serie "Über Lebenskunst":Wer bist du und wenn ja, wie viele?

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Vor zwei Jahren stellte Christoph Marthaler die Frage, was der Mensch ist. Jetzt gibt es "Universe Incomplete" auf DVD.

Von Egbert Tholl

Derzeit kann man leicht auf den Gedanken kommen, das Beste wäre, lang zu schlafen. Ewig zu schlafen, das ganze Jahr 2020 zu verschlafen. Wenn man denn könnte, einen nicht immer etwas umtreiben würde. So sagt hier auch eine der elf ruhelosen, aber durchaus ruhesehnsüchtigen Gestalten, er habe zu wenig geschlafen in diesem Jahrhundert. Hätte er's, so kann man insinuieren, hätte er sich auch nicht immer wieder Fragen stellen müssen.

Fragen, die man nicht beantworten kann, umkreisen einen derzeit in ungeheuerlichem Ausmaß. Auch Christoph Marthaler fand bei der Ruhrtriennale vor zwei Jahren keine Antworten, natürlich nicht, aber mit der Musik von Charles Ives und dem daraus erbauten Zauberabend "Universe, Incomplete" zumindest eine Lösung. Einen Trost. Und der besteht aus den letzten sieben Minuten dieses mehr als zweistündigen Abends, den man nun auf DVD zu Hause nachverfolgen kann. Die paar Minuten sind Ives' "The Unanswered Question".

Nun verharren die elf, lauschen der Musik, die scheinbar einfach in dem riesigen Raum der Bochumer Jahrhunderthalle vorhanden ist, deren Herkunft man nicht sieht, bis auf einen Trompeter, der immer wieder fünf Töne bläst. Sieben Mal fragt die Trompete mit einem Motiv aus diesen wenigen Tönen, sieben Mal versuchen die Holzbläser, darauf eine Antwort zu finden, sieben Mal gibt es keine. Und unter all dem ruht ein stiller, harmonisch glänzender Streichersee wie der Klang eines nie endenden Schweigens.

Charles Ives' kurzes Stück "The Unanswered Question" ist eine Ikone der Moderne. Es wirkt unmittelbar, um es zu verstehen, muss man keinerlei Ahnung von Tonalität und deren Auflösung haben. Denn das Stück ist tönende Philosophie, kündet von Menschsein und Demut, verweist darauf, dass es Dinge gibt, die größer sind als der Einzelne. Die Fragen, auf die es wirklich keine Antworten gibt, die stellt sich jeder ganz allein, sie wollen der eigenen, subjektiven Tragödie Raum geben. Erklingt hier die Musik, dirigiert von Titus Engel, nickt jeder der elf Darstellenden bedächtig mit dem Kopf. Ja, das ist offenbar die richtige Frage, stimmt schon so, und wir haben sie alle, das ist der Trost.

Ives arbeitete in verschiedenen Perioden an einem der utopischsten Musikstücke überhaupt, der "Universe Symphony", die von mehr als 4000 Musikerinnen und Musikern in weit auseinanderliegenden Orten gleichzeitig hätte aufgeführt werden sollen. Das wurde natürlich nichts, deswegen heißt ja Marthalers Abend auch "Universe, Incomplete". Vieles von dem, was Ives damals für seine Universumssymphonie entwarf, erklingt in der Jahrhunderthalle, dazu weitere Stücke von Ives, jazzige Märsche, Songs, rätselhafte Klangschichtungen, ein Streichquartett und eben die unbeantwortete Frage. Der Aufwand ist enorm, drei Orchester, darunter die Bochumer Symphoniker, stehen zur Verfügung, aber doch ist die Aufführung eher eine Evokation von Leere, da die Musiker vorüberhuschen und oft außerhalb des Blickfelds der Kameras agieren. Bis auf zwei Klavierspieler, bei denen das Auge sozusagen mithört.

Der Abend beginnt wie zu Corona-Zeiten, solche Assoziationen bleiben derzeit nun einmal nicht aus. Menschen warten an einem Checkpoint auf Einlass, betreten einzeln den riesigen Raum, setzen sich auf eine Tribüne, während über ihnen, von den Traversen der einstigen Schwerindustrie aus, ein Klöppeln und Trommeln erklingt, musikalische Ursuppe. Diese Warterei im Anna-Viebrock-Ambiente ist ein echter Marthaler-Moment, wie es noch viele geben wird. Momente der allergrößten Verzweiflung, des Abstrampelns. Eingebettet in den Kosmos der Ives'schen Musik, die zu Lebzeiten des Komponisten in ihrer Ambivalenz zwischen Beharren und Aufbruch kaum verstanden wurde, mühen sich die Darsteller wie Sisyphusse. Sie zittern, verzweifeln, manche versuchen einen Ausbruch aus Konventionen, andere suchen scheu, aber voller Sehnsucht Kontakt zu den anderen oder verknoten sich in großen Haufen ineinander. Es könnte herzzerreißend sein, gäbe es nicht genau gesetzte Dosen Humor, mal im Spiel, mal in ulkigen Texten von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger, mal in einer babylonischen Sprachverwirrung. Jeder will ergründen, wer er ist, wer die anderen sind.

Verdutzt bemerkt man erst gegen Ende, dass da sehr viele Zuschauer sind. Die Erkundungen der Darstellenden wirken wie Unternehmungen in einer Leere, die postapokalyptisch wäre, wäre sie nicht von Klang erfüllt, der in diesem herrlichen Trost kulminiert. Danach kann man schlafen, traumlos schön.

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Quelle:
SZ vom 03.04.2020
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