Süddeutsche Zeitung

Serie: Globalisierung am Ende?:Weltkulturkanon

Vorbei sind die Zeiten, als China, Afrika oder arabische Länder westliche Kunstexporte dankbar empfingen. Heute stellen sie selber Forderungen und gestalten mit.

Von Jörg Häntzschel

Liegt es an den Chromgewittern, den Walfisch-Karosserien, den zu Retro-Schmuck aufgemotzten Instrumenten? Oder warum fühlt man sich in den neueren Oberklasse-wagen von BMW, Audi und Mercedes wie in einem nicht synchronisierten Film? Aus der europäischen Design-Tradition stammt dieses High-End-Rokoko nicht. Es mögen zwar "deutsche" Autos sein, doch produziert werden sie für Chinesen, Russen, Araber und Amerikaner, die viel mehr von ihnen kaufen als die Europäer. Warum spielen Kinder im Westen mit dem Tee trinkenden Meister Wu von Lego Ninjago? Weil die dänische Spielzeugfirma hoffte, mit dieser Serie Chinas Markt zu erobern.

Jahrzehntelang schien die Globalisierung nur eine Richtung zu kennen: von Amerika aus in den Rest der Welt. Die McDonald's-Läden, die in den Siebzigern kamen, fanden sich später in Russland, Indien und China. Die Welt wurde gleichförmiger, und man nahm es gelassen. Europa hatte die Globalisierung ja bereits durchlaufen, war einer ihrer Hauptakteure und stand als Gewinner fest.

Doch das steht nun infrage. Die letzten Jahrzehnte haben die Schwellenländer so stark, selbstbewusst und sensibel für westliche Dominanz werden lassen, dass die ehemalige Einbahnstraße Globalisierung jetzt in beide Richtungen befahren wird. Westliche Exporte sind oft nur noch um den Preis des Imports von Ansprüchen, Vorlieben, Werten dieser Länder zu erreichen. Die Globalisierung entwickelt sich zu einem System kommunizierender Röhren.

Das gilt vor allem im Filmgeschäft. Seit Jahren tut Hollywood, was es kann, um in China Fuß zu fassen, dem bald größten Kinomarkt der Welt. Die chinesischen Zuschauer lieben amerikanische Ware. Doch die Behörden lassen zum Schutz der eigenen Studios nur 34 nicht chinesische Produktionen im Jahr zu. Wer mit seinem Film dazugehören will, muss Konzessionen machen. Es hilft, wenn chinesische Investoren beteiligt sind, wenn an chinesischen Schauplätzen gedreht wird und chinesische Stars mitspielen. Doch ebenso genau sehen sich die Filmaufseher den Inhalt an. Exzessive Gewalt, übermäßiger Genuss von Drogen und Alkohol, aber auch Aberglaube sind verboten - und natürlich Kritik an Chinas Regierung.

Bisher produzierten westliche Studios eigene Versionen für den chinesischen Markt. Mal schnitten sie anstößige Szenen heraus, wie Quentin Tarantino bei "Django Unchained". Mal ergänzten sie die fertigen Filme durch chinesische Charaktere und in China gedrehte Szenen wie bei "Iron Man 3". Eleganter ist es aber, von Anfang an nach chinesischen Kriterien zu planen. Wie bei der amerikanisch-chinesischen Koproduktion "The Great Wall". Gedreht wurde in China, Regie führte der chinesische Action-Spezialist Zhang Yimou. Mit Matt Damon hat der Film zwar einen amerikanischen Star, doch spielt er hier einen westlichen Söldner, der demütig bei chinesischen Kämpfern in die Lehre geht. Gewiss, Hollywood-Blockbuster sind oft reaktionär, rassistisch und militaristisch. Aber ist es besser, wenn sie nach den Vorgaben chinesischer Beamter produziert werden?

Auch die Kunst macht Kompromisse. Als die Art Basel sich 2013 die Hongkonger Kunstmesse Art HK einverleibte und daraus ihren dritten Standort nach Basel und Miami Beach machte, fielen Vorwürfe wie "Kulturimperialismus". Der globale Messegigant bemühte sich deshalb, möglichst lokal zu erscheinen. Unter anderem reservierte er die Hälfte der Stände für Galerien aus China und Hongkong, obwohl die meisten die strengen Qualitätsmaßstäbe nie erfüllen könnten, welche die Art Basel auf ihren beiden anderen Messen anlegt. Ähnlich geht es den westlichen Künstlern und Kuratoren, die sich auf den Kunstzirkus zwischen Moskau, Sharjah und Shanghai einlassen und an den Ausstellungen der Privatmuseen und Biennalen mitwirken, die sich Scheichs, Oligarchen, ihre Ehefrauen und Töchter leisten. Es ist ein für beide Seiten einträglicher Austausch von Kunst gegen Geld, nur müssen sich die Gäste aus dem Westen in die politische, religiöse und moralische Repression dieser Länder fügen. Für viele Künstler ist es inzwischen normal, eine Beschneidung gerade jener künstlerischer Freiheit zu akzeptieren, für die ihre Vorgänger lange gekämpft haben.

Im Herbst soll die Zweigstelle des Louvre in Abu Dhabi eröffnet werden, als Prachtstück der 27 Milliarden Dollar teuren Kultur- und Tourismus-Oase Saadiyat Island mit 29 Hotels, dem Nationalmuseum und einer Guggenheim-Filiale. Die New York University hat ihren Campus dort schon vor drei Jahren bezogen. 525 Millionen Dollar zahlten die Scheichs für das Recht, die Marke "Louvre" benützen zu dürfen; weitere 747 Millionen für Leihgaben und komplette Ausstellungen aus Paris sowie für kuratorische Beratung.

Viele empörten sich anfangs darüber, dass Frankreich seine nationalen Heiligtümer als Köder für Touristen verscherbele und 200 Jahre nach der französischen Revolution mit einer absolutistischen Monarchie Geschäfte machte. Doch auch in Abu Dhabi gab es Debatten. Einen plumpen Deal Geld gegen Kultur, mit dem ein anderes Wüstenreich, Las Vegas, gescheitert war, wollte man nicht wiederholen. 2001 veredelte das Megacasino The Venetian sein Shopping- und Entertainment-Angebot mit einer Galerie der Sankt Petersburger Eremitage und einer Guggenheim-Niederlassung. Sie wurden bald geschlossen.

Die Louvre-Filiale soll kein Franchise-Betrieb werden, sondern Eigenständigkeit demonstrieren, indem sie eine universale, nicht mehr eurozentrische Version der Kunstgeschichte erzählt. Und dies nicht nur, um als Tourismusziel Offenheit zu zeigen. Nach einem langen Jahrhundert kultureller Dominanz des Westens schien die Zeit reif, die Kultur der arabischen Welt als der europäischen ebenbürtig darzustellen und in einen Welt-Kunst-Kanon einzubauen. Dass dabei auch eine humanistische und sehr aktuelle Botschaft abfällt, nach der die Menschen über die Grenzen von Herkunft und Religion hinweg dieselben Leidenschaften teilten, dieselben Ausdrucksmittel wählten, ist ein willkommener Nebeneffekt.

Als 2013 in Abu Dhabi die Vorab-Schau "Birth of a Museum" zu sehen war, erklärte die Projektleiterin Hissa al Dhaheri: "Wir wollen zeigen, wie sich Zivilisationen gegenseitig beeinflusst haben, wo die Ähnlichkeiten liegen. Wir sind alle Menschen!" Auch der frühere Louvre-Direktor Henri Loyrette räumt ein: "In Wahrheit ist der Louvre kein wirklich universelles, enzyklopädisches Museum."

Viele westliche Museen denken zur Zeit darüber nach, wie sie ihre Sammlung entsprechend neu darstellen können. Bekanntestes Beispiel ist das Berliner Humboldt-Forum, das vor allem aus den Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst bestückt wird. Der Umzug der jahrzehntelang unverändert ausgestellten Exponate aus Dahlem ins Zentrum wird eine unsanfte Zeitreise und ein Test für Deutschlands kulturelles Selbstverständnis. Es genügt nicht, die Einbäume und Totempfähle zu restaurieren. Sie müssen in ein zukunftsweisendes Konzept eingebunden werden, das die Beziehung zu den Kulturen, denen sie entstammen, neu definiert. Die alte Teilung von europäischer Kunst und "Völkerkunde" lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.

Deswegen versuchen die Gründungsintendanten des Humboldtforums, Neil MacGregor, Hermann Parzinger und Horst Bredekamp, die seit 15 Jahren bis ins Detail geplante Ausstellung so weit noch möglich umzubauen. Der "Dialog der Kulturen", noch vor wenigen Jahren eine avancierte Idee, genügt nicht mehr: "Das ist nur Kitsch, der bestehende Dichotomien zementiert", so Bredekamp. Eher sollen auch hier die Gemeinsamkeiten der Kulturen im Vordergrund stehen, das "Weltbürgertum", die "Menschenkultur" (Bredekamp).

Eilig intensiviert man die Zusammenarbeit mit Kuratoren aus Afrika und anderen "Herkunftsländern". "Multiperspektivität" lautet ein Schlagwort: "Wir wollen die Welt nicht nur aus dem Blickwinkel von Europa betrachten", so Parzinger. Dass alle drei Intendanten weiße Europäer sind, macht es dabei nicht leichter.

Wie unbekannt das Terrain ist, zeigt die Debatte um das Kreuz auf dem wiederaufgebauten Stadtschloss. Ist es nur ein bedeutungsloses Deko-Element oder ein symbolisches Auftrumpfen des Gebäudes über seinen Inhalt? Käme umgekehrt der Verzicht auf das Kreuz einer Art symbolischer Selbstkastration gleich?

Es ist diese Sorge um "Identität", die den Kern etlicher Debatten ausmacht, nicht nur bei der kleingeistigen Rechten. Als Chris Dercon zum neuen Intendanten der Berliner Volksbühne ernannt wurde, warnten Mitarbeiter des Hauses in einem offenen Brief vor der "Schleifung von Identität". Dercon stehe für eine "global verbreitete Konsenskultur mit einheitlichen Darstellungs- und Verkaufsmustern".

Klima oder Wohnungsbau: Märkte und Weltprobleme lassen die Kulturen zusammenrücken

Die Frage ist nun, wie man mit dem Ende des Eurozentrismus in der Kultur und mit den Rückkopplungseffekten der Globalisierung umgeht, ohne auf protektionistische Reflexe zu verfallen. Eine Institution, die dafür ein Modell entwickelt hat, ist das Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). Gegründet wurde es 1989 als Forum für nicht westliche Kultur. Doch der Geburtsfehler war offensichtlich: Man ließ ausländische Künstler kommen, doch der deutsche Standpunkt stand nicht zur Diskussion. Mitte der Neunziger wechselte man im Zug der Postkolonialismusdebatte die Vorzeichen. Nun organisierten nichteuropäische Kuratoren einen Großteil des Programms. Das HKW verstand sich als Reservat für alle vom Westen Marginalisierten. Doch hinter dieser Konstruktion stand "eine Art umgekehrter Eurozentrismus", so HKW-Direktor Bernd Scherer. Der Anschluss zur deutschen Debatte fehlte.

Scherer, der das Haus 2006 übernahm, versteht sein Programm als einen Austausch über Weltthemen "auf Augenhöhe". Das hat nicht zuletzt mit der Entwicklung der Welt zu tun: Die Künstler aus China, die in den Neunzigern dankbar waren, im HKW ausstellen zu dürfen, sind heute Superstars. Europa wirkt kleiner und marginaler. Jahrhundertereignisse wie Klimawandel und Anthropozän betreffen die ganze Menschheit. "Man versteht unsere Gesellschaft nicht mehr, ohne die restliche Welt mitzudenken, sei es ökonomisch, politisch oder kulturell", sagt Scherer. Man müsse sich nur den Berliner Wohnungsmarkt ansehen, der durch die Feldzüge chinesischer Investoren wie durch den Zuzug von Flüchtlingen zur Echokammer globaler Entwicklungen geworden ist.

Bezeichnend ist, dass auch Scherer vor allem Krisenphänomene anspricht. Märkte und Weltprobleme lassen die Kulturen zusammenrücken. Die alten kulturellen Hierarchien lassen sich kaum noch rechtfertigen. Über all dem schwierigen Aushandeln gerät die Neugier auf das Fremde und die Hoffnung manchmal ganz in Vergessenheit.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2017
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