Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Das Anthropozän:Gegen die Naturgewalt Mensch

Der Klimawandel hat weltweite Auswirkungen, aber es gibt keine weltweit verbindlichen Regeln, um ihn zu bekämpfen. Wie können Menschen ihre globale Naturgewalt beherrschen?

Von Andreas Zielcke

Welcher Theoretiker des Anthropozäns wird die Geduld aufbringen, noch einmal auf die großen Denker zurückzugreifen, die sich alle schon mit unbeabsichtigten Folgen menschlicher Aktivitäten beschäftigt haben? Sei es auf Machiavelli, Adam Smith, Karl Marx, Max Weber oder den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton? Vielleicht reicht es wenigstens zur Lektüre von Mertons berühmter Frühschrift, "The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action", die er 1936 verfasst hatte, da war er gerade 26 Jahre alt. Instruktiv ist hier nachzuvollziehen, wie Menschen selbst fatale Nebenwirkungen ihrer Handlungen in Kauf nehmen, wenn sie starke Interessen haben, sich blind zu stellen. Natürlich dachte damals weder Merton noch sonst jemand bereits an die ökologischen Folgen der industriellen Dynamik, die die entwickelte Welt dann nach dem Krieg in Gang gesetzt hat.

Heute ist dafür der Begriff "Neben"-Folge fast schon ein Euphemismus. Die Menschen greifen inzwischen derart massiv in den Naturhaushalt der Erde ein, dass sie selbst zur Naturgewalt geworden sind. Wenn jemand dieser Gewalt Herr werden kann, dann nur sie selbst. Um sie aber tatsächlich einzuhegen und zu kontrollieren, müssen sie eine Form von Selbststeuerung installieren, die historisch ohne Vorbild ist.

Je mehr Freiheit wir uns heute nehmen, desto enger werden die Spielräume morgen

Seit der Entstehung der Nationalstaaten bedeutet Selbststeuerung, politische Souveränität auszuüben. Unter demokratischen Vorzeichen heißt dies, dass alle Regierungsgewalt vom Volke ausgeht. Was aber bedeutet Selbststeuerung, wenn vom Volke eine Naturgewalt ausgeht? Wenn die Menschen nicht ihren politischen Absichten Gestalt geben, sondern das Weltklima aufheizen, die Kreisläufe auf dem Land und im Ozean schädigen, den Planeten übervölkern, die Ressourcen erschöpfen und den Erdball vermüllen?

SZ-Serie: Das Anthropozän

Der Mensch ist eine Naturgewalt geworden. Seine Eingriffe in den Planeten sind so radikal, dass sie erdgeschichtliche Dimensionen erreicht haben. Ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, hat begonnen, so die These vieler Wissenschaftler. Es löst das Holozän ab, jene ruhigen 12 000 Jahre, während derer sich die menschliche Kultur entfalten konnte. In einer Serie fragen wir nach den Konsequenzen dieses Epochenwandels. Nicht nur für die Natur, auch für den Menschen, dessen Weltbild nun seine Gültigkeit verliert.

Die Frage geht jeder demokratischen Selbstbestimmung gegen den Strich. Offene Gesellschaften setzen, mit Karl Popper gesagt, eine offene Zukunft voraus: kein deterministischer Zwang, frei wählbare Optionen, selbstverantworteter Wandel, substantielle Alternativen. Wie keine anderen Gesellschaften beziehen die demokratischen ihre politische Energie aus ihrem Gestaltungs- und Reformoptimismus. Darum verlassen sie sich auch so bereitwillig auf das Versprechen des ewigen ökonomischen Wachstums. Umgekehrt ist es bei der Selbststeuerung, die die entfesselte menschliche Naturgewalt beherrschen soll. Bei ihr geht es nicht um die Chancen einer offenen, sondern um die Vermeidung einer verheerenden Zukunft. Das Höchste, das hier zu erreichen ist, ist die Abwendung ökologischer Katastrophen.

Kein Wunder also, dass sich die demokratische Selbstherrschaft durch die geforderte negative Selbststeuerung der Ökologie bedroht sieht. Als politische Bürger setzen wir auf den freien Ausgang nach vorne, als physische Bürger sind wir drauf und dran, den natürlichen Ausgang zuzumauern. Und wie immer besitzt auch hier die negative Macht das größere Drohpotenzial. Jede Öko-Kassandra spielt mit apokalyptischen Worst-Case-Szenarien, um maximalen Nötigungsdruck zu erzeugen. Und in der Tat ist es so: Je weniger es gelingt, die geophysikalischen Prozesse, die durch menschliches Tun außer Kontrolle geraten sind, durch menschliches Tun unter Kontrolle zu bringen, desto stärker schrumpft der politische Freiheitsraum.

Nun sind ja die ökologischen Notstände, die sich zusammenbrauen, besser erforscht und prognostizierbar als die meisten sonstigen Folgen menschlicher Handlungen. Trotz eines Bodensatzes hartnäckiger Leugner des Klimawandels ist das Problem daher nicht Unwissen, das Problem ist das Auseinanderfallen von Wissen und Handlungskompetenz.

Am deutlichsten offenbart sich das Dilemma auf dem Gebiet des Rechts. Welche Instanz kann mit welcher Sanktionsmacht die ökologische Steuerung für alle Welt ausüben? Da die Menschen ihre globale Naturgewalt nur global beherrschen können, lassen vor allem Geowissenschaftler nicht nach, an das "Humankollektiv" zu appellieren. Dieses Kollektiv müsse ein "Erdmanagement" installieren, wie es Frank Biermann ausdrückt, der in Utrecht Global Sustainability Governance lehrt. Doch ein geschäftsfähiges Subjekt "Menschheit", das ein Öko-Management weltweit verbindlich regeln könnte, gibt es nicht.

Keine noch so ambitionierte "Öko-Governance" kann diese Leerstelle überspielen. So heißt es in der UN-Rahmenkonvention von 1992, die allen nachfolgenden Klimaschutzabkommen zugrunde liegt, dass die "Änderungen des Erdklimas die ganze Menschheit mit Sorge erfüllen". Gleichzeitig wird der "Grundsatz der Souveränität der Staaten" bekräftigt. Die Menschheit sorgt sich, die Nationen handeln für sich.

Natürlich ist die Nichteinmischung ein Charakteristikum des Völkerrechts. Aber hier geht es nicht um Gewaltverbote oder Regionalkonflikte, die von Fall zu Fall durch UN-Organe beizulegen sind, sondern um eine von der industriellen Zivilisation ausgelöste und sich täglich verstärkende Schädigung der Lebensbedingungen aller Menschen. Ökologisch muss sich die Menschheit in den Arm fallen, Unterlassen ist keine Option. Schon wenn wenige der Industriestaaten nicht handeln, werden alle Länder in Mitleidenschaft gezogen, ungeachtet ihrer Souveränität. Ökologisch gibt es keine Nichteinmischung mehr.

Da es aber mangels einer real existierenden Weltinnenpolitik keine Alternative zum Völkerrecht gibt, bleibt diese sehr begrenzte Rechtsform im internationalen Umweltschutz das Maximum jeglicher Verpflichtung. Umweltkonventionen beruhen auf völkerrechtlichen Verträgen, und von denen kann prinzipiell jeder Mitgliedstaat jederzeit zurücktreten. So räumt nicht nur die Rahmenkonvention von 1992 das Ausstiegsrecht ausdrücklich ein, sondern auch die wichtigste Klimavereinbarung der letzten Jahre, das Pariser Abkommen von 2015 (mit dem sich die Staatengemeinschaft darauf festgelegt hat, die "durchschnittliche Erdtemperatur deutlich unter zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu halten"). Bekanntlich machte der amerikanische Präsident von diesem Recht Gebrauch. Tritt ein Staat aus einem Verband wie etwa der Welthandelsorganisation WTO aus, schadet er vor allem sich selbst. Tritt er aus einer Umweltkonvention aus, schadet er den anderen.

Nicht dass ein Missverständnis entsteht: Ohne die völkerrechtlichen Selbstverpflichtungen, die sich die Staaten auferlegt haben, wäre es um die globalen Umweltgüter sehr viel schlechter bestellt, auch wenn es keine umfassende Bilanz gibt, die das konkret belegt. Für das Pariser Abkommen soll 2023 eine erste Bestandsaufnahme stattfinden. In jedem Fall dokumentieren all die bis heute vereinbarten Verträge einen enorm gewachsenen Regelungswillen - seien es neben dem Klimaschutz die Übereinkommen zum Schutz der bedrohten Arten, der Meere, der genetischen Ressourcen, des tropischen Regenwalds, der Antarktis oder zum Schutz vor Versauerung, vor persistenten Schadstoffen oder vor Wüstenbildung. Trotzdem beruhigt es wenig, auf das bereits Beschlossene zu blicken, wenn das, was angesichts der drohenden unwiderruflichen Schäden unverzüglich geboten ist, in weiter Ferne liegt.

Wie wenig die rechtlichen Instrumente der globalen Dimension entsprechen, liegt aber nicht nur an der Souveränitätsschranke der Nationen. Es liegt auch den Instrumenten selbst. Ginge es nach dem Wortlaut, mit dem viele Staaten den Umweltschutz in ihrer Verfassung verankert haben, etwa im deutschen Grundgesetz (Art. 20a), dann wäre das Schutzprinzip auf der Höhe des Anthropozän-Bewusstseins: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlage." Um mehr als den Schutz der "natürlichen Lebensgrundlagen" geht es auf der Erde nicht.

Aber weder Deutschland noch sonst ein Staat will sich wirklich die planetarische Verantwortung aufladen. Also ist die Formel nicht beim Wort zu nehmen. Welche geografische Begrenzung ist dann hineinzulesen? Nur die Umwelt auf nationalem Terrain? Nein, sagen Verfassungsjuristen, schon wegen des Klimawandels sind auch grenzüberschreitende Prozesse zu erfassen. Bis wohin aber, bleibt im Dunklen. Der Soziologe Niklas Luhmann nennt solche absichtlichen Grausphären von Begriffen "strategisch platzierte Unschärfen".

Die klassischen Verantwortungsstrukturen des Rechts verschwinden

Ohne diese semantischen Dunkelräume müsste das Umweltrecht sein elementares Regelungsdefizit eingestehen, gerade auch im lokalen Umweltschutz. Hier wird mit sogenannten "Umweltprüfungen" in allen Industrieländern kontrolliert, wie sich größere technische Vorhaben auswirken auf "Reichtum, Verfügbarkeit, Qualität und Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen, insbesondere Fläche, Boden, Landschaft, Wasser, Tiere, Pflanzen, biologische Vielfalt des Gebiets und seines Untergrunds" (so eine Kriterienliste im deutschen Umweltverträglichkeitsgesetz). Doch selbst unterstellt, dass alle lokalen "Gebiete und ihr Untergrund" auf diese Weise ökologisch geschützt werden, heißt dies noch lange nicht, dass sich aus all diesen Einzelschutzakten ein wirksamer globaler Schutz zusammensetzt.

Die weltweiten Kreisläufe summieren sich nicht additiv aus den lokalen Faktoren, sondern bilden systemische, sich auf dem gesamten Planeten rückkoppelnde Wirkungsketten. Beim Klimawandel ist dies offensichtlich, aber kaum weniger beim Zusammenspiel zwischen Entwaldung, Bodenversiegelung, Grundwasserabsenkung und Wasserkreisläufen und den vielen anderen Wechselwirkungen zwischen scheinbar marginalen lokalen Eingriffen, die sich irgendwo auf der Welt zu unbeherrschbaren Zerstörungskaskaden kumulieren. Typischerweise aber verschwinden in der Umweltverträglichkeitsprüfung vor Ort diese Gesamteffekte hinter dem Horizont. Nicht nur das, hinter dem Horizont verschwinden damit auch die klassischen Verursacher- und Verantwortungsstrukturen des Rechts.

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Quelle:
SZ vom 03.05.2018/luch
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