Serie "Am Start":Erleuchtung in der Badewanne

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"Es ändert viel, wenn man zugeben kann, dass man etwas nicht weiß." Die Regisseurin Camille Hafner. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Wie könnte das Theater der Zukunft aussehen? Die Münchner Nachwuchsregisseurin Camille Hafner hätte da ein paar Ideen.

Von Philipp Bovermann

Die Zukunft des Theaters ist pink. Pink wie das überdimensionale Sofa, das an diesem Sommertag vor dem Seitentrakt des Münchner Prinzregententheaters steht, in dem die Theaterakademie August Everding untergebracht ist. Pink wie der ausgeschlachtete und dann zu einem überdachten Blumenbeet umfunktionierte VW Käfer. Pink wie "UWE - der Festival", das die Studierenden in Eigenregie alle zwei Jahre veranstalten, gerade ist es wieder so weit. Gemeinsam mit Kommilitonen aus ganz Europa spielen sie dort Theater, feiern und diskutieren, eine "vollautomatische Verrissmaschine" der Kulturkritik-Studenten findet über eine Videoleinwand alles überschätzt. Camille Hafner, Regiestudentin im dritten Jahr, ist in Gummistiefeln erschienen, denn es hat geregnet. Jetzt scheint wieder die Sonne. Sie steht zwischen Kommilitonen, die sich eine Frisbeescheibe zuwerfen. Sie macht sich Gedanken.

Gerade hat eine Dozentin aus dem Bereich Dramaturgie das Festival mit einer Rede eröffnet, die von den Studenten johlend beklatscht wurde. Sie hat unter anderem gesagt, das Theater sei "nicht der Ort, um Impulsivität auf Kosten anderer auszuleben", womit sie sich auf eine aktuell an vielen Theaterhäusern geführte Diskussion bezog. Der Theaternimbus des gerechten Zorns, der revolutionären Wut, des dionysischen Furors wird bisweilen als Rechtfertigung missbraucht, um von psychischer Gewalt geprägte Hierarchiestrukturen zu errichten. Wie man in Zukunft nicht mehr miteinander arbeiten wolle, darüber sei in den vergangenen Jahren viel gesprochen worden, so die Rednerin. Nun sei die Frage zu stellen: "Wie wird eine neue Kultur der Zusammenarbeit hervorgebracht, ohne unbewusst weiter machtmissbräuchliche und ausgrenzende Verhaltensweisen zu reproduzieren? Wie gelingt das ganz konkret?"

Die 28-jährige Hafner gehört zu dieser Generation, die an den Theatern bald künstlerische Entscheidungen treffen und dabei alles neu und anders machen soll: transparenter. Gemeinschaftlicher. Mitfühlender. Weiblicher. Wie sehen ihre Antworten auf diese Fragen aus?

Hafner nimmt einen Schluck aus der 1,5-Liter-Wasserflasche, die sie mit sich herumträgt. Am Anfang ihres Studiums, vor zwei Jahren, habe sie noch das Gefühl gehabt, bei Studienproduktionen in jedem Moment so wirken zu müssen, als wisse sie genau, wohin die Reise gehen soll - dem Bild des Regisseurs als Autor entsprechend, der, aus der Tiefe seines Genies schöpfend, stets eine klare Vision vor Augen hat.

Sie wuchs beim Zirkus auf, die Eltern waren Artisten, das prägt fürs Leben

Dann allerdings habe sie begonnen, in bestimmten Momenten offen zu sagen, dass sie sich noch nicht sicher sei, was besser funktioniert, und ihre Mitstreiter darüber diskutieren zu lassen. "Es ändert total viel, wenn man zugeben kann, dass man etwas nicht weiß. Ich kann gar nicht mehr anders arbeiten."

Als Regisseurin laufe man damit aber auch leicht in die Falle, als "nett" zu gelten. "Nett" ist bei Frauen bekanntlich niemals einfach nur "nett". Es klingt schon das "nette Mädchen" an, dem dringend zu helfen ist und dem Ratschläge zu erteilen sind.

Hafner erzählt, wie sie einmal Regie führte, als die Dramaturgieklasse der Theaterakademie zusammen mit der Kompositionsklasse der Musikhochschule einen Abend unter dem Thema "Identität" gestaltete, ein irres Projekt wegen der großen Zahl der beteiligten Künstler und Musiker. Ihre Aufgabe war es, alles irgendwie zusammenzuhalten. Für Proben waren nur fünf Tage Zeit, Hafner lief auf und ab und musste künstlerisch den Verkehr regeln: Die rauf auf die Bühne, die runter, die jetzt dort rüber, wo bleiben die Kostüme? Da habe sie den Spruch bekommen, sie wirke so gestresst. Sie solle sich mal entspannen.

Hafner inszenierte damals nicht gegen das Gewimmel an, das man ihr auf die Bühne gesetzt hatte. Sie ließ den Abend szenisch in viele kleine Teile zerfallen, die jeweils für sich standen. Aus der Frage nach Identität machte sie eine nach Identitäten, im Plural, und ließ gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Noemi Sorgo in der Mitte der Bühne einen zunächst sauber gestapelten Haufen aus Umzugskisten aufstellen. Darauf wurde das Gesicht einer Schauspielerin projiziert, das entlang der Kistenränder zerbrach, während eine Tänzerin den Haufen in Unordnung brachte.

Nach der Premiere ging Hafner zwischen den Besuchern herum und fragte sie, was sie gedacht und gesehen hatten. Wer dabei war, spürte damals: Sie fragte das nicht, um zu prüfen, ob ihre Inszenierung verstanden worden war oder um Interesse zu heucheln. Offenbar war da etwas in den Bildern, die unter ihrer künstlerischen Leitung entstanden waren, was noch als Frage im Raum stand. Auch für sie selbst. Man kann diesen Mut, komplexe, nicht fix und fertig durchkonzeptionierte Zeichen zuzulassen, leicht als Ignoranz missverstehen. Die Regisseurin muss schließlich wissen, was gespielt wird! Tatsächlich aber stellte sich beim Schauen jene Mischung aus intellektueller Anspannung und Lockerlassen ein, die das Theater in guten Momenten schafft.

Geschlossene Bilder sind eine Illusion, eine Projektion. Die Leitidee der damaligen Inszenierung, ihr Plädoyer für Offenheit und Brüchigkeit, spiegelt sich auch in Hafners Arbeitsweise wider. In ein kleines, schwarzes Arbeitsbüchlein klebt sie ausgeschnittene Zeitungsartikel, Textschnipsel, teils handgeschrieben, teils ausgedruckt und mit geschwärzten Zeilen, dazwischen immer wieder Fotografien, viele davon auffallend düster. "Ich vermische alles", sagt Hafner. Bevor sie zum Theater kam, studierte sie an der Kunsthochschule ihrer Heimatstadt Zürich, bastelte Collagen. Es faszinierte sie, dass man nie weiß, was man sucht, bis man das nächste Puzzleteil sieht. "Wenn ich's nur in meinem Kopf mache, wenn ich male, komme ich zu sehr auf meine Pfade. Bei einer Collage leitet das Material mit."

Das Material leitet mit. Wenn dieses Material nun die an einer Theaterproduktion beteiligten Schauspieler und Künstler sind - wäre das nicht eventuell die inklusive Arbeitsweise, die anstatt des absolutistischen Autorenverständnisses für den Regieberuf gesucht wird? Hafner sagt zu dieser Überlegung: "Alles gibt Impulse. Der Text, der Raum, die Fotos, aber vor allem natürlich: die Schauspieler, klar." Sie wolle herausfinden, wie sich die Collagentechnik in ein inszenatorisches Prinzip übersetzen lässt.

"Das wäre mein Traum: Ein Theater mit Kinderkrippe und Altersheim."

So ganz scheint sie sich dabei noch nicht zu vertrauen. Im vergangenen Jahr inszenierte sie "Geschlossene Gesellschaft" von Sartre, eigentlich ein furchtbares Stück, sagt sie, "ein Schultheaterstück". Aber gerade die titelgebende Geschlossenheit der dramatischen Versuchsanordnung reizte sie. Drei Menschen sind gestorben, sie kennen sich nicht, aber nun müssen sie miteinander reden. So wird jeder zur Hölle des anderen. Hafner inszenierte das schnörkellos in einem engen Kasten aus Fliegengittern, solide, aber nicht so, dass man sich länger daran erinnert hätte - wenn sie nicht kurz vor Ende auf die selbstauferlegte Reduktion gepfiffen und sich erlaubt hätte, wild zusammengewürfelt, visuell, semantischüberladend, eben collagenhaft zu arbeiten.

Da war plötzlich eine Badewanne, in die sich eine der Schauspielerinnen stellte und in der sie selbstvergessen in einen Föhn sang, der ihren durchsichtigen Plastikumhang flattern ließ. Dann fand an der Badewanne eine Beerdigung statt, als Nächstes rückte eine Besuchergruppe mit Audioguides an, um sie zu besichtigen, zuletzt ertönte das gurgelnde Geräusch eines Abflusses. Die Badewanne schien plötzlich aus den sich kreuzenden Bezügen zu fallen, wie etwas Ewiges, wie die Hölle, die einem manchmal in den profansten Dingen begegnet. Nach der Aufführung lief Hafner wieder herum und fragte ihre Gäste, was sie gesehen hatten.

Was sie denn in der Theaterszene ändern würde, wenn sie könnte? Hafner sagt, sie schleppe da so eine Utopie mit sich herum: den Zirkus. Sie ist nämlich in verschiedenen Zirkussen aufgewachsen. Ihre Eltern waren Artisten und ließen sich saisonweise engagieren, dann zog die Familie ein Jahr durch die Schweiz, jedes Jahr eine neue, bunt zusammengewürfelte Truppe.

Ihr erster Auftritt, Hafner kann sich noch daran erinnern. Sie konnte kaum laufen, durfte aber schon durch die Manege rennen, hinter ihr die Mutter, die "Jetzt" sagte, auf der anderen Seite der Vater mit den geöffneten Armen, dazwischen grelles Licht. Sie war als Kleinkind bei den Proben dabei, sah sich die Vorstellungen an, und zwar jede einzelne, später spielte sie mit, machte Seiltanz. Beim Zirkus, erzählt Hafner, haben alle alles gemeinsam gemacht, vom morgendlichen Zähneputzen über die Arbeiten am Platz bis zur Vorstellung am Abend. Man musste einander blind vertrauen, wenn man sich, steif wie ein Brett, durch die Luft wirbeln und fangen ließ. Man war Familie, und als Familie spielte man zusammen. "Schrecklich und schön" sei das gewesen.

Dass Familie und Theater doch irgendwie zu verbinden sein müssten, darüber denkt sie auch aus aktuellem Anlass viel nach. Sie ist schwanger, im August kommt das Kind. Deshalb trinkt sie aus ihrer Wasserflasche, während ihre Kommilitonen das von einer Münchner Brauerei gesponserte Bier zischen lassen, das es kostenlos in einem pinken Holzschuppen gibt. Hin und wieder kommt jemand vorbei und streichelt ihren Bauch.

Das werde schon nicht einfach mit einem Kind, sagt Hafner. Vor allem die sechs Wochen Probenzeit, da könne man als Regisseurin nicht einfach um 15 Uhr gehen. "Warum gibt es keine Theaterkrippen, keine Theaterkindergärten?" Ein familienfreundliches Theater sei zugleich ein inklusives Theater. Und inklusiv wollten die Theater schließlich sein, unterschiedliche Perspektiven und Generationen einbinden. In der Kantine sei sowieso den ganzen Tag jemand und könnte aufpassen. "Das wäre mein Traum: Ein Theater mit Kinderkrippe und Altersheim." So wie damals im Zirkus.

Gleich wird bei UWE Theater gespielt, das Stück "Bent" über Homosexualität in Nazideutschland, danach gibt es noch eine "Dschungelparty". Hafner will nicht bleiben, sondern nach Hause, packen. In ein paar Tagen macht sie die erste Fuhre ihres Umzugs in die Schweiz. Nächstes Jahr kommt sie für ihre Bachelorinszenierung zurück, mit Freund und Baby. Ob sie Angst vor der Zukunft hat? Die Regisseurin in Gummistiefeln lacht. "Ich verbiete mir manchmal, zu lange zu überlegen. Und dann mach ich einfach mal."

© SZ vom 06.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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