Roman:Der schwarze Hund in der Grube

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Sergej Lebedew erzählt in seinem Roman "Kronos' Kinder" von der Minderheit der Deutschen in Russland und taucht dafür auch in die eigene Vergangenheit ein.

Von Sonja Zekri

Im Herbst 1937 widerfährt Arsenijs Tochter ein Unglück. Ein Herbstgewitter, Blitz und Donner, danach hört Lina auf zu sprechen, einfach so. Ein Wolfshund sei ihr erschienen, flüstern die Dorfbewohner, böse, riesig, schwarz, ein Künder des Unheils, deshalb sei sie verstummt. Und Arsenij reitet hinaus, mit Jagdgewehr und Revolver, rasend vor Sorge, fluchend vor Angst, um das Ungetüm zu erlegen. Aber alles, was er findet, ist ein Abhang, in den die Dorfleute das krepierte Vieh werfen, darin wühlt ein kleiner schwarzer Mischlingshund. Und Arsenij, voller Wut, dass er sich so hat täuschen lassen, dass er auf den Aberglauben der Bauern hereingefallen ist, kriecht in die Grube - und erschlägt den Hund.

In dieser Begegnung ist alle Wissen konzentriert, das Sergej Lebedews Roman "Kronos' Kinder" über den Hass auf Außenseiter, über die grausamen Entlastungsstrategien einer verängstigen Gesellschaft besitzt. 1937 ist das Jahr des großen Terrors, Menschen verschwinden, womöglich auch Linas große Liebe, und dieser Kummer - und ein Kugelblitz - haben Arsenijs Tochter die Sprache geraubt. Dass dafür derjenige bezahlen muss, der selbst verleumdet wurde, der schwarze Hund nämlich, und zwar gerade, weil sich seine Unschuld herausgestellt hat, dass das Opfer leiden muss, weil es den anderen daran erinnert, dass er schuldig wurde, das nimmt jene furchtbare Logik vorweg, der nicht nur Arsenij, sondern auch seine ganze Familie zum Opfer fallen.

Arsenij ist Deutscher. Sein Großvater Balthasar Schwerdt, ein Homöopath, zog 1830 aus Leipzig nach Russland, verbrachte auf dem Gut eines schrulligen Ausbeuters ein paar gruselige und später ein paar ruhigere Jahre, und ahnte nicht, wie verhängnisvoll seine Herkunft für die Nachfahren werden würde. Denn nicht nur Arsenij, der bald nach der Hundebegegnung ermordet wird, sondern auch die meisten seiner Kinder kommen um, nicht nur, aber oft eben auch wegen ihrer deutschen Herkunft, ihres deutschen Namens.

"Es gab einen Text, aber keinen Menschen, nur ein Derivat der allgemeinen Zeit."

Nur Lina, die unglücklich Liebende, legt ihren Namen ab, verschweigt ihre Abstammung, besucht - es ist längst Perestroika, bald ist die Putin-Ära angebrochen - mit ihrem Enkel Kirill den deutschen Friedhof und offenbart ihm kurz vor ihrem Tod die blinden Flecken des Stammbaums. Und Kirill, auf unwiderstehliche, fast mythische Weise angesprochen, forscht wie unter einem Zwang nach den unbekannten Vorfahren - und schreibt darüber ein Buch.

Das ist, ganz klassisch und ganz ähnlich wie in Lebedews früheren Romanen "Der Himmel auf ihren Schultern" und "Menschen im August", der Rahmen seines neuen Werkes.

Wieder taucht Lebedew in die russische Vergangenheit ein, und diesmal ist es auch ein wenig seine eigene. Denn dieser Balthasar Schwerdt, der "gute Arzt", ist der historischen Figur des deutschen Arztes Julius Schweickert nachempfunden, von dem wiederum Lebedew selbst abstammt.

Lebedew, der als Geologe Sibirien kennenlernte, als Journalist arbeitete und ein kompromissloser Kritiker der russischen Regierung ist, lebt heute in Berlin, aber das dürfte dennoch weniger Heimkehr als Exil bedeuten. Ohnehin ahnt der Leser mehr als er es weiß, dass Kirills fiebrige Suche Lebedews eigenen Recherchefuror widerspiegelt. Und welche Söhne, Schwester, Schwiegermütter, welches tragische Schicksal, welche bizarre Todesart nun tatsächlich historisch ist und welche nur erdacht, bleibt ebenfalls offen. Das ist eine Schwäche.

In einer realen Familiengeschichte akzeptiert der Leser noch die bizarrste Wendung, es bleibt ihm ja nichts anderes übrig. Die Ereignisse eines Romans aber stehen unter ganz anderem Glaubwürdigkeitsdruck, und in "Kronos' Kinder" bleiben sie oft Skizzen, Szenen, Fragmente. "Es gab einen Text, aber keinen Menschen, nur ein Derivat der allgemeinen Zeit", schreibt Lebedew, und ein wenig trifft das auch auf seine Figuren zu. Obwohl Lebedews Stil alles tut, um jeden Schritt, jeden Blick, jeden Auf- und Abtritt seiner Figuren mit geraunten Andeutungen und Zitaten bis zurück zur Antike mit historischer Bedeutung zu befrachten, zu "codieren", wie man wohl sagt. Das gelingt ihm zwar auf erstaunlich kitschfreie Weise, nur kommt er darüber nicht recht zum Erzählen.

Doch die Qualität von "Kronos' Kinder" ist nicht die Frage, ob es den "gepökelten Fähnrich" wirklich gegeben hat, ob - wie Balthasars Bruder Andreas - tatsächlich ein Deutscher in der russischen Flotte diente, der bei einer Weltumseglung von Wilden teilverspeist und für spätere Untersuchungen in Salz haltbar gemacht wurde. Die Qualität und - zumindest für deutsche Leser - die Provokation des Romans besteht darin, dass Lebedew in der sich steigernden Verfolgung einer Minderheit nicht nur eine Folge, sondern geradezu eine Bedingung des Totalitarismus sieht - und diese Minderheit sind die Deutschen.

Dass sie sich bestens integrieren, Erfolg und Verbindungen haben, macht sie - wenn die russische Mehrheit nur bedrängt genug ist - erst recht verdächtig. "Der Feind - er ist kein Fremder, sondern einer von ihnen", so beschreibt Arsenij nach dem Krieg mit Japan die Ressentiments der russischen Soldaten: "Aufständische, Studenten. Reiche. Offiziere. Revolutionäre. Generäle. Höflinge. Die Zarin. Stößel. Kuropatkin. Ihre kaiserliche Majestät. Jüdische Wucherer. Einfach nur Juden. Und Deutsche." Juden und Deutsche als Verfolgte in einem Atemzug. Da muss man erst mal Luft holen.

Aus der Perspektive eines Russen hat diese Reihung aber nichts Relativierendes, Weinerliches, sie zeigt, im Gegenteil, den Mechanismus in seiner ganzen Schäbigkeit. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion schien alle Vorurteile zu bestätigen, die Deutschen in Russland wurden deportiert, enteignet waren sie längst. Täter oder Opfer - das ist hier, wie so oft, vor allem eine Frage der Gelegenheit.

Sergej Lebedew: Kronos' Kinder. Deutsch von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 382 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 11.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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