Separatismus in Europa:"In Katalonien werden geschichtliche Fakten zurechtgebogen"

Generalstreik in Katalonien

Hinter dem Abspaltungswunsch stehe ein starkes Bedürfnis nach Identität und Zusammengehörigkeit, meint Professor Sanahuja.

(Foto: dpa)

Sagt José Antonio Sanahuja, Professor für Internationale Beziehungen in Madrid. Ein Gespräch über erfundene Traditionen und die Gemeinsamkeiten von katalanischen Unabhängigkeitskämpfern und Brexit-Befürwortern.

Interview von Friederike Oertel

José Antonio Sanahuja ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Complutense Madrid. Außerdem leitet er die Abteilung Entwicklung und Zusammenarbeit des spanischen Forschungszentrums "Instituto Complutense de Estudios Internacionales" (ICEI). Er gilt als scharfer Kritiker derzeitiger Unabhängigkeitsbewegungen.

SZ.de: Herr Sanahuja, in Ihrem kürzlich erschienen Essay "Post-Globalisation und der Aufstieg der extremen Rechten" behaupten Sie, derzeitige Unabhängigkeitsbewegungen wie die katalanische basierten auf einer "narrativen Konstruktion". Was bedeutet das?

José Antonio Sanahuja: Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist in vielerlei Hinsicht eine spezifische Angelegenheit. Natürlich wird auch sie von Faktoren beeinflusst, die wir aus ähnlichen Bewegungen kennen - einer sozioökonomischen Krise beispielsweise. Spanien wurde etwa von der Weltwirtschaftskrise 2008 härter getroffen als andere Länder. Doch auch das, was der Historiker Eric Hobsbawm "die Erfindung der Tradition" nennt, liefert einen wichtigen Erklärungsansatz.

Hobsbawm spricht von einer Konstruktion oder Umdeutung historischer Ereignisse, um aktuelle Machtansprüche zu legitimieren.

In Katalonien werden geschichtliche Fakten zurechtgebogen, sodass sie der Rechtfertigung eines unabhängigen Nationalstaates dienen. Man will damit vor allem Traditionen besetzen, die erst seit kurzer Zeit existieren - oder sogar erfunden wurden, um bestimmte Werte und Verhaltensnormen durchzusetzen. Man kann da durchaus von einem postfaktischen Nationalismus sprechen.

Haben Sie ein Beispiel?

In Katalonien wird die Niederlage im Spanischen Erbfolgekrieg 1714 oft zu einem Sezessionskrieg stilisiert, in dem sich die Katalanen von den Kastiliern abspalten wollten. Das ist jedoch politisch zurechtgebogen. Der Krieg war nie ein Kampf zwischen zwei Kulturen. Es war ein Krieg zwischen Habsburgern und Bourbonen, in dem die Katalanen im falschen Lager standen.

Ein anderes Beispiel: Die Unabhängigkeitsbefürworter verweisen auf ihr Selbstbestimmungsrecht als katalanisches Volk. Ausgeblendet wird dabei, dass dieses Recht nach Auslegung der Vereinten Nationen und der gängigen Rechtsprechung Völkern vorbehalten bleibt, die kolonisiert oder allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit unterdrückt werden. Auf die Katalanen trifft weder das eine noch das andere zu. Ein weiteres Narrativ ist, dass Spanien ein autoritärer Staat sei. Was schlicht Unfug ist.

An welche Werte und Verhaltensnormen appelliert das alles?

Es erzeugt zunächst vor allem das Gefühl einer historisch gewachsenen Opferrolle. Den Eindruck, immer wieder unterdrückt zu werden. Dahinter steht, so vermute ich, das Bedürfnis nach Identität und Zusammengehörigkeit.

Das scheint zu funktionieren.

Weil es zudem auch noch in eine zunehmend unübersichtlichere Welt fällt, in der nationale Grenzen und regionale Besonderheiten eine immer geringere Rolle spielen und Nationalstaaten an Macht einbüßen. Das Gefühl, die Globalisierung ginge mit einem allgemeinen Kontrollverlust einher, verstärkte sich mit der Weltwirtschaftskrise 2008. Viele verloren ihre Arbeitsplätze, Ersparnisse wurden entwertet. Und die etablierten Parteien liefern wenig befriedigende Antworten.

Vermeintlicher Halt inmitten des Umsturzes

Und wo die Politik keine Antworten liefert, entsteht Raum für "alternative Erklärungen"?

Exakt. Es verwundert nicht, dass in diesem Vakuum neue Klassifizierungen und Narrative entstehen, die vorgeben, mehr Erklärungskraft zu haben. Die Populisten haben mit ihren Erzählungen von Tradition und Nation eine Leerstelle besetzt, indem sie Fragen nach Identität und Sicherheit vermeintlich beantworten und die Rückeroberung von Kontrolle versprechen. Heimat und Tradition sind identitätsstiftende Momente, die Halt inmitten von Umsturz bieten. Das funktioniert immer nach ähnlichen Prinzipien ­- bei der Unabhängigkeitsbewegung geht es keineswegs nur um eine Angelegenheit zwischen Katalonien und dem spanischen Staat, sondern um Prozesse, wie wir sie auch in Schottland, Norditalien oder im Baskenland erleben. Die Argumente der Brexit-Befürworter etwa gegen die EU ähneln stark denen, die die Katalanen gegen Spanien verwenden.

Man findet in Katalonien also auch Narrative, die man bereits aus anderen Teilen Europas kennt?

Natürlich. Es gibt auch dort zum Beispiel die Anti-Elite-Erzählung, die sich gegen die politische Klasse, die Reichen, die "Experten" und die Political Correctness richtet. Die Stimmung in einigen Teilen der katalanischen Bevölkerung, die Region würde von Spanien ausgeplündert, kursiert ebenfalls schon lange. Angesichts von Terrorismus und Einwanderung wurden zudem Sicherheits- und Identitätserzählungen entwickelt, die vom eigenen "Volk", von Kultur und Identität erzählen und das "Andere" als Bedrohung konstruieren. Und es existiert ein Anti-Globalisierungs-Narrativ, das den Euroskeptizismus umfasst und sich gegen kosmopolitische Werte richtet, soziale Vielfalt ablehnt und zum Teil offen rassistisch und islamfeindlich ist.

Warum halten sich diese postfaktischen Ansichten so standhaft? Es gibt doch - unter anderem im Internet - unzählige Möglichkeiten, sich zu informieren und sie als falsch zu entlarven.

Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Soziale Netzwerke spielen bei der Verbreitung dieser Erzählungen eine Schlüsselrolle. Plattformen wie Facebook basieren bekanntlich auf Algorithmen, die auf die Vorlieben eines jeden Benutzers abgestimmt sind. Menschen sehen verstärkt, was sie sehen wollen. Wer einem Narrativ grundsätzlich glaubt, bekommt immer mehr von dem angezeigt, was seine Sicht bestätigt. Somit entstehen selbstreferentielle Schleifen, die diese Diskurse verstärken und eine postfaktische Filterblase entstehen lassen. Und eben jene Filterblasen ermöglichen, die Geschichte im Sinne der "erfundenen Tradition" zu deuten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: