Süddeutsche Zeitung

Neues von Sempé:Auf Kurs

Nicht alles war schlecht an 2020: Sempé hat einen neuen Bildband herausgebracht.

Von Johanna Adorján

Es sei ganz leicht, eine Idee für eine Zeichnung zu finden, sagt Jean-Jacques Sempé, der große französische Karikaturist, mit dessen Werken mehrere Generationen Franzosen aufgewachsen sind, in Deutschland ist er am bekanntesten für den "Kleinen Nick". Er sagt diesen Satz in einem Dokumentarfilm über ihn aus dem Jahr 2011 an seinem Zeichentisch in Paris sitzend, vor ihm ein Fenster mit weiter Sicht über die Dächer der Stadt. Man müsse es einfach nur so machen: Er stützt sein Kinn auf die Hände. Und dann so: Er verbirgt sein Gesicht in den Händen. Dann so: Er verschränkt die Arme auf dem Tisch. Sei einem bis zum Abend nichts eingefallen, beginne man am nächsten Morgen wieder von vorne. Habe man nach acht Tagen immer noch keine Idee, mache man weiter. Habe man nach 15 Tagen immer noch keine Idee, mache man weiter. Eines Tages werde sie zwingend kommen. Manchmal erst nach sechs Monaten - aber sie werde kommen.

In Frankreich ist gerade ein neuer Bildband von ihm erschienen. Das passiert nicht mehr alle Tage, das Buch steht in vielen Pariser Buchhandlungen im Schaufenster und wird als schönes Weihnachtsgeschenk angepriesen. Es heißt "Garder le cap" (Den Kurs halten) und ist eine Sammlung seiner Karikaturen für das Magazin Paris Match.

"Es stellte sich heraus, dass ich nie Lust hatte zu arbeiten."

Sempé ist 88 Jahre alt. Nach einem schweren Unfall im Jahr 2007, nach dem er im Koma lag, hat er alles wieder neu lernen müssen, gehen, sprechen, einen Pinsel halten. Er hat sich wieder zurück an seinen Zeichentisch gekämpft und die vergangenen Jahre weiter gearbeitet, als wäre nichts gewesen, jetzt ist er müde. In einem Interview, das zum Erscheinen des neuen Bildbands in Paris Match erschien, erzählte er, dass ihn die Frau, die sich um ihn kümmere, zu einer Therapeutin geschickt habe, weil sie sich Sorgen gemacht habe, und die Therapeutin habe zu ihm gesagt, Schluss jetzt, er habe genug gearbeitet, jetzt sei die Zeit für den Ruhestand. "Sie sagte, ich solle mich ausruhen und nur noch arbeiten, wenn ich Lust habe. Und es stellte sich heraus, dass ich nie Lust hatte zu arbeiten."

Der neue Bildband zeigt Arbeiten aus verschiedenen Epochen. Manche haben recht viel Text, sind fast wie kleine Kurzgeschichten mit luxuriöser Bebilderung, wo man sich erst einlesen muss, was etwa die reizende ältere Dame, die artig ihre Handtasche mit beiden Händen vor sich pressend in der Eingangstür einer Kirche steht, zu Gott sagt, der als Statue vor ihr auf einem Sockel steht. (Sie fragt ihn, ob die Tatsache, dass sie jedes Mal, wenn sie sein Haus betrete, sofort wieder kehrtmache, weil ihr einfalle, dass sie in der Nähe noch einen Einkauf tätigen müsse, dort oben womöglich das hervorrufe, was man hier eine "gewisse Spannung" nenne.)

Oder der Schriftsteller, der seinem Verleger in dessen Büro erzählt, wie er einen Gymnasiasten überreden konnte, bei der Wahl des Prix Goncourt des Lycéens, des Prix Goncourt der Schulklassen, für sein Werk zu stimmen. Sempé erzählt hier das ganze Milieu des oberen Verlagswesens in wenigen Strichen. Die perfekt frisierten Haare des schicken alten Verlegers, der sein Handy gleich neben dem Telefonapparat vor sich auf dem Tisch liegen hat. Der übertrieben bescheidene Augenaufschlag des in Wahrheit natürlich unfassbar eitlen Schriftstellers, dessen Umhänge-Ledertasche seine kleine Herkunft verrät. Im Hinterzimmer preisen Verlagsangestellte vor Pressevertretern die Neuerscheinungen an.

Der Autor ist zu erkennen am Rollkragenpullover und der intellektuellen Verantwortung auf seinen Schultern

Ein paar Seiten weiter findet sich noch so eine herrlich zutreffende Schilderung des Literaturmilieus. In einer Mehrzweckhalle sitzt an einem Pult ein Schriftsteller, sofort zu erkennen am Rollkragenpullover, der Brille und der riesigen intellektuellen Verantwortung, die schwer auf seinen Schultern lastet. Er ist nicht mehr ganz jung, raucht, das Köfferchen neben seinem Stuhl erzählt, dass er direkt vom Bahnhof zum Veranstaltungsort gekommen ist. Es ist ein großer Saal, und am Rand stehen palettenweise Getränke und Gläser bereit, doch es sind fünf Personen gekommen. Eine von ihnen, eine alte Dame mit Hütchen, spricht gerade in das Mikrophon, das ihr der Mann von der Technik (Pferdeschwanz) hinhält: "Meine Frage ist die folgende: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie ein Schriftsteller sind, ein Autor, dessen Bücher, dessen Geschichten den Erwartungen der Öffentlichkeit entsprechen?"

Sempé wurde 1932 in Marseille geboren und hatte eine unglückliche Kindheit. Seinen leiblichen Vater hat er nie kennengelernt, mit dem Stiefvater hatte die Mutter viel Streit. Als Junge entfloh er in eine Welt der Träumereien, deren Zugang Jazz für ihn war. Er hatte einen eigenen Radioapparat in seinem Zimmer. Flogen in der Küche abends die Fetzen, weil der Vater mal wieder betrunken nach Hause gekommen war, machte er das Radio an, brachte sein Ohr ganz nah an den Lautsprecher und verschwand zu Duke Ellington und dessen Orchester.

Er ist zeichnend dieser traurige Junge geblieben, der sich in ein schöneres Leben träumt. Und seine Leser nimmt er mit. Dafür wird er auf der ganzen Welt geliebt und in Frankreich verehrt wie ein Nationalheiliger. Man kann schon sehr wehmütig werden, wenn man sich einen Bildband von Sempé ansieht und all die kleinen Strichmenschen darin mit ihren viel zu großen Träumen.

Auf einer Zeichnung im neuen Buch stehen sich nachts auf einem Platz in einer Stadt ein Mann und eine Frau gegenüber. Angezogen stehen sie in einem Brunnen, das Wasser reicht ihnen bis weit über die Knie. "Ich will alles versuchen, Clara, aber diese Leidenschaft mit ihren Extravaganzen, die uns vor einigen Jahren belebt hat, existiert nicht mehr."

Und oft braucht Sempé kein einziges Wort, um einen sehnsüchtig zu machen. Die Welt auf Sempés Zeichnungen ist eine vergangene, war es schon immer. Er hat schon in den Sechzigerjahren ein Paris gezeichnet, das nicht mehr existierte. Selbst, wenn so etwas Modernes wie Handys zu sehen ist, wirken die Bilder altmodisch, wie die Erinnerung an etwas, das es so vielleicht nie gab und das doch eine kollektive Erinnerung ist. Oder ein kollektiver Wunsch: Ein Sehnen nach einer Zeit, in der noch nicht alles so kompliziert und überfordernd war.

Stehen zwei alte Damen (schon wieder! Er hat so eine Liebe für alte Damen!) angeregt in einen Plausch vertieft auf der Straße. Die eine hat einen Hund an der Leine. Sie stehen wohl schon etwas länger, denn der Hund hat in der Zwischenzeit allein eine Runde gedreht. Das Bild ist aus der Vogelperspektive erzählt, über die ganze Seite ist eine Stadtansicht zu sehen, natürlich Paris. Ganz unten stehen winzig die beiden Damen - und die Hundeleine verläuft rechts herum in einer riesigen Runde im Zickzack von Laterne zu Laterne, bis der Hund unten links wieder bei den Damen ist. Wie hübsch diese Tuschezeichnung ist, die Gebäude schraffiert, hier ein Denkmal, da ein Baum, kleine parkende Autos. Denn zu allem anderen kommt ja noch hinzu, dass Sempé so ein fantastischer Zeichner ist.

Er zeichnet aus dem Kopf, immer. Wenn er die Rue de la Paix zeichne, gehe er nicht hin und mache Skizzen, hat er einmal erzählt, sondern er zeichne die Rue de la Paix aus dem Kopf. Es ist davon auszugehen, dass Sempés Rue de la Paix charmanter ist, als die wahre Rue de la Paix jemals sein könnte. Ach, wäre doch das ganze Leben so schön wie Sempés Rue de la Paix.

Sempé, Garder le cap, Éditions Denoël et Éditions Martine Gossieaux - 2020. 120 Seiten, 35 Euro (bislang nur auf Französisch).

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