Süddeutsche Zeitung

Selbstzensur der Musikindustrie:F***!

"Explicit Lyrics" - ein Aufkleber, der gute Verkaufzahlen garantiert. Unter dem Vorwand des Jugendschutzes zensiert die Musikindustrie ihre eigenen Produkte und schützt dabei vor allem die schwarzen Zahlen.

Matthias Oden

Die Unterschiede könnten kaum größer sein zwischen dem Gangsta-Rapper 50 Cent und der Softpop-Rockerin Avril Lavigne: Hier sorgfältig gepflegte Ghetto-Attitüde inklusive Gewalt, Drogen und Sex, dort ein erwachsen werdender Teenie-Star, dessen Lieder sich vor allem der Liebe und jugendlicher Selbstfindung widmen. Trotzdem haben beide eines gemeinsam - man bekommt ihre Lieder oft nur zensiert zu hören.

So wird in Lavignes aktuellem Hit "Girlfriend" die Textzeile "I'm your motherfucking princess" nur selten unverändert ausgestrahlt: Das "F-Wort" ist einfach ausgeblendet, in der Textzeile klafft eine tonlose Lücke. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Stück von Lavigne entschärft wird; 2004 fehlte das Wörtchen "shit" in ihrem Song "I can do better". Der Rapper hingegen ist mit seinen anzüglichen Texten ein Dauerkandidat für inhaltliche Bereinigung - so geht es in "Candy shop" ganz eindeutig um Oralsex und nicht um Süßigkeiten.

Avril Lavigne und 50 Cent sind nur zwei Beispiele für die um sich greifende Gewohnheit der Musikindustrie, ihre eigenen Produkte zu zensieren. Das betrifft keineswegs nur die ohnehin verdächtigen "Gangsta"-Kreise eines 50 Cent oder Sänger, die wie Lavigne mit dem Bürgerschreck-Genre Punkrock anbandeln.

Selbst der brave Popschnulzen-Sänger James Blunt hat seinen Hit "You're beautiful" in zwei Versionen auf den Markt gebracht. In der Originalfassung des Schmachtfetzens ist Blunt "fucking high", also krass berauscht, während er in der entschärften Version nur noch hoch fliegt - "flying high".

MTV - Retter der Moral

Vom ursprünglichen Sinn komplett befreit wurde schließlich die Radio-Version des Lieds "Let's get retarded" der Hiphop-Gruppe Black Eyed Peas. Der Titel bezeichnet im Slang der US-Westküste das Durchdrehen auf der Tanzfläche. Da aber "retarded" auch "geistig zurückgeblieben" bedeutet, fürchtete man, das Stück könne diskriminierend verstanden werden - und spielte eine zweite Version ein: "Let's get it started". Für die findet Google knapp dreimal mehr Einträge als für die Original-Fassung.

Das Verhältnis der Suchergebnisse offenbart die Problematik solcher Textumdichtungen: Anders als beim Löschen einzelner missliebiger Wörter merkt der ahnungslose Musikkonsument nichts davon, dass ihm eine bearbeitete Version untergeschoben wird.

Wie viele Lieder derart "bearbeitet" werden, ist unklar, eine offizielle Statistik existiert nicht. Der Musikredakteur des Berliner Radios Kiss FM, Bojan Milojevic, schätzt jedoch, dass bis zu zehn Prozent der Charts nachträglich entschärft werden.

Die Musikindustrie rechtfertigt dies moralisch. MTV-Sprecherin Nicola Haake verweist zwar darauf, dass die Musikvideos bereits bearbeitet aus den USA kämen. Der Sender behalte sich jedoch das Recht vor, bei "entwicklungs- beeinträchtigenden und oder sozialethisch desorientierenden Inhalten" neue Schnittversionen von den Plattenfirmen eigens anzufordern. Schließlich sei man bemüht "der charakterlichen, sittlichen, religiösen oder geistigen Erziehung Rechnung zu tragen". Ähnliches hört man vom Viva-Sprecher Abdi Sasan.

Bluttriefende Kuscheltiere

Angesichts des täglichen Programms der beiden Musiksender klingt solche Rhetorik etwas naiv. So wäre es interessant zu erfahren, wie die Sender die Pornoästhetik mancher Videoclips mit diesem Anspruch vereinen, oder wie etwa die MTV-Zeichentrickserie "Suicidal Squirrels" zur sittlichen Erziehung beiträgt: In ihr bringen sich Eichhörnchen auf möglichst blutige Weise um.

Bei der deutschen Abteilung von Sony BMG - dem Musikkonzern, der Avril Lavigne unter Vertrag hat - weist man die Verantwortung für die zensierten Silben weit von sich. Es gehe darum, den strikten Moral-Richtlinien der Vereinigten Staaten zu genügen.

"Diese Geschichten sind vor allem für den US-Markt gemacht", sagt Produkt-Manager Daniel Kamps. Allerdings herrscht auch in der eigens für den hiesigen Markt eingespielten Version von "Girlfriend", in der Lavigne den Refrain auf deutsch singt, nach dem "mother" eine zweisilbige Stille.

Was soll also die oft albern wirkende Zensur? Auch Radioleute weisen auf Inkonsequenzen hin. "Hier wird Jugendsprache aus Gründen des Jugendschutzes zensiert", sagt Tobias Maier, Musikchef des Berliner Senders Radio Multikulti. Zudem ist "fuck" ähnlich universell einsetzbar wie der Deutschen liebster Kraftausdruck und wie dieser längst nicht mehr auf den ursprünglichen Wortsinn begrenzt.

Offenbar ist die moralische Integrität, die durch die Kaschierung von Signalwörtern vorgegaukelt wird, gar nicht erwünscht. Wenn in Robbie Williams "Come Undone" oder Madonnas "American Life" das "fuck" ausgeblendet ist, wird dadurch keine Jugend geschützt, und keine wäre gefährdet, sängen die Red Hot Chili Peppers in "Tell me baby" "shitty" statt "kitty".

Viel eher ist die selbsternannte Sittenwächterrolle der Musiklabels fester Bestandteil ihrer Kommerzmaschinerie: Denn was sich mit dem Ruch des Verbotenen umgibt, ist interessant, wirkt unangepasst und cool und wird entsprechend gekauft. Damit sprechen die Musikmanager die Reflexe genau jener Jugend an, deren Schutz man sich edelmütig auf die Fahnen geschrieben hat.

"Kauf mich"-Aufkleber

Der "Explicit Lyrics"-Aufkleber, der in den USA auf Alben vor anstößigen Inhalten warnen soll, ist längst zum Gütesiegel avanciert. Nur er verspricht die Portion an Härte, die es braucht, um hip zu sein.

Der Rapper Ice-T brachte diesen Zusammenhang auf den Punkt: "The sticker on the record is what makes 'em sell gold" - es ist der Aufkleber auf der Platte, der sie zum Kassenschlager macht. Und nur aus diesem Grund prangt er auch hierzulande auf Alben, obwohl er gar nicht vorgeschrieben ist.

Der Musikindustrie kommt ihre Zensur also doppelt zugute: Durch ihr aufpoliertes Image als Saubermann, der Jugendliche vor nicht altersgerechten Inhalten schützt, und durch erhöhte Verkaufszahlen der "explicit lyrics".

Doch die Bevormundung, so scheint es, schafft auch den Wunsch nach Abhilfe: Internetradiosender wie Banditradio oder RawHipHop senden nur unzensierten Rap, und ein Avril-Lavigne-Fan stellt in einem Internet-Forum entnervt fest: "Deutschland wird genauso pimmelig wie die USA." Wäre das ein Liedtext, er würde wohl gepiept werden.

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SZ v. 15.5.2007
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