In den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts wurde die Welt aus der relativen Sicherheit eines Fahrzeugs betrachtet. Robert de Niro kreuzte als Travis Bickle im Taxi durch das Sündenbabel New York, sah Schmutz und Elend, grübelte über die menschliche Verkommenheit und wurde zum Schluss ein Racheengel. August Kandel war viel langsamer, er zockelte mit seiner Kutsche durch Stuttgart, meist auf dem Weg vom Bahnhof zum Schlossplatz und immer mit seinen Gedanken beschäftigt, die nicht von Rachegelüsten und Gewaltfantasien durchzogen waren, in denen aber für die Gegenwart draußen auch nur sehr wenig Sympathie abfiel. Aber das spielte in einer anderen Zeit, das war 1912, es ist Stuttgart, doch der Kutscher träumt von Wien.
Der Roman "Der Kutscher und der Wappenmaler" von Hermann Lenz erschien 1972, liederlich gesetzt und voller Druckfehler, im Jakob-Hegner-Verlag, der einmal die deutschen Übersetzungen der Bücher Kierkegaards herausgebracht hatte. Anders als Kierkegaard verkaufte sich Lenz nicht. Er lebte von seiner Frau, die Sachbuchlektorin war, und von einem bescheidenen Monatsgehalt als Sekretär des Süddeutschen Schriftstellerverbands. Er musste bei Lesungen die Karten abreißen und für durchreisende Schriftsteller Hotelzimmer besorgen und konnte von Glück sagen, wenn er, wie 1956, dem viel bekannteren Hermann Kasack den Koffer zum Lyrikfestival in Knokke hinterhertragen durfte.
Wie er diese literarische Nicht-Existenz jahrzehntelang ertragen hat, ist ein Rätsel für sich. Kurz vor Weihnachten 1972 erhielt der vom Erfolg so gründlich verschonte 59-jährige Lenz den Brief eines Fans, der fast dreißig Jahre jünger war als er: "Ihr letztes Buch habe ich Satz für Satz gelesen, weil ich auf jede Einzelheit neugierig war. Einmal dachte ich: 'Da kann man sich wirklich auf die Einzelheiten ganz und gar verlassen' - und das ist sicher ein Zeichen, dass da wirklich ein Schriftsteller arbeitet, und kein bloßer Behaupter."
Mit "entsetzter Abwesenheit" wehrte sich Hermann Lenz gegen die Zeit, er war anderswo
Der Fan hieß Peter Handke, der eben auf der Höhe seines Ruhms angekommen war; in diesem Jahr 1972 erschienen seine Bücher "Der kurze Brief zum langen Abschied" und "Wunschloses Unglück". Sie gelangten in die Spiegel-Bestsellerliste; der "Kurze Brief" verkaufte sich insgesamt hunderttausendmal, während die Auflage von Lenz auf soliden dreihundert Exemplaren verharrte.
Handke hatte dem bewunderten Autor versprochen, etwas zu "machen", also über ihn zu schreiben. Er besuchte ihn in Stuttgart, las sich durch "drei Kilo" Lenz, wurde aber immer wieder am Schreiben gehindert, unter anderem, weil er im folgenden Herbst den Büchner-Preis in Empfang nahm. Am 4. Adventswochenende 1973 erschien hier in der Süddeutschen Zeitung Handkes Aufsatz "Tage wie ausgeblasene Eier" mit seiner "Einladung, Hermann Lenz zu lesen". Literaturhistoriker werden nicht nur festhalten, dass der Autor, wie er ausplauderte, "825 Mark gegen 2 Monate Arbeit" erhielt, sondern dass er einen großen Kollegen vor dem Verschwinden bewahrte und dabei überhaupt erst entdeckte: Lenz kam nicht bloß zum Suhrkamp-Verlag, er ging auf Lesereisen und erhielt viele Preise, darunter sogar, fünf Jahre nach Handke, den Büchner-Preis, mit dem er es bis in die Tagesschau schaffte.
Wer damals literarisch auf sich hielt, wer zu den hunderttausend Lesern Handkes gehörte, folgte seinem Beispiel und las in den Siebzigern die Bücher von Hermann Lenz. Unzeitgemäßer hätte niemand sein können. Draußen war eben der Jom-Kippur-Krieg vorbei, auf den die Opec-Staaten mit dem Ölboykott reagierten, was zum legendären Sonntagsfahrverbot, einer mittelschweren Wirtschaftskrise führte. Der Vietnamkrieg ging zu Ende, die RAF, der westdeutsche Arm der vietnamesischen Befreiungsfront, mordete trotzdem weiter. Die ersten Umweltkatastrophen ereigneten sich, die Anti-Atom-Bewegung bildete sich.
Lenz war anderswo, saß auf einer Kutsche, auf jeden Fall weit, weit weg von der Gegenwart, aber ganz bei sich. "Mit entsetzter Abwesenheit" wehrt er sich gegen die Zeit, er ist anderswo. Dafür war in jenen Siebzigern gerade das Schimpfwort "Neue Innerlichkeit" erfunden worden, es galt neben Handke Lyrikern wie Rolf Dieter Brinkmann, Christoph Derschau, Jürgen Theobaldy oder Rainer Malkowski. Lenz' von Mörike regierte Innerlichkeit konkurrierte nicht damit, doch sie kam zur rechten Zeit.
"Kandel bemerkte Einzelheiten, aber das Ganze sah er nicht", heißt es im "Kutscher" und weiter: "freilich, wer sah schon das Ganze ..." Auch sein Erfinder sieht es nicht, gönnt seinem Helden aber die Fernsicht bis Wien, wo er einmal war, weil er einer Liebe gefolgt ist, der Franziska von Leutrum. Kandel verdingte sich als Austräger einer Musikalienhandlung in der Hoffnung, das inzwischen verheiratete Fräulein käme vorbei, weil sie doch bestimmt eine Gitarre kaufen würde. Auch die Kutsche gäbe ihm Gelegenheit, nach ihr Ausschau zu halten, ob sie nicht doch eines Tages mitfahren will. Statt ihrer steigt ein seltsamer Vogel zu. "Er horchte auf das Hufeklappern und überlegte, wer der Reisende sein könne, der hinter ihm, die Beine übereinandergeschlagen und zurückgelehnt, eine Zigarre rauchte, als Gepäck nur eine glasperlenbestickte Tasche bei sich hatte, die längst aus der Mode gekommen war, und leise mit sich selber sprach."
Kandel denkt mit sich selber leise, er führt ein stummes Selbstgespräch und will gar nicht, dass ihm jemand zuhört, dass ihn überhaupt jemand stört. Der Fahrgast ist der Wappenmaler Fuchsberger. Der Kutscher mit seiner ungestillten Sehnsucht hält ihn für einen "Lebensmeister", einen, der nicht bloß bei Hofe verkehrt, sondern als Künstler in der Welt herumkommt, frei ist und ungebunden. Peinlich genug, dass sich dann herausstellt, dass er mit einer dicken Hühneraugenschneiderin zusammen ist.
Es ist ein rarer Glücksfall, dass sich im Nachlass von Hermann Lenz, der 1998 gestorben ist, eine frühe Fassung des Romans gefunden hat, der Handke 1972 so begeistert hat. Es handelt sich um einen im Manuskript siebzig Seiten langen Text, den Lenz Jahre vorher an einen Rundfunkredakteur geschickt hat, der ihn, nicht weiter überraschend, als ungeeignet zurückschickte. Was war auch im Revolutionsjahr 1967 anzufangen mit Sätzen wie: "Ausbleichendes Licht mischte sich in die leere Straße und machte sie weiter als sie war." Trotzig gegenwartsfern klingt es, wenn Lenz seinen Kutscher sagen lässt: "Doch es war barer Unsinn, Revolution zu machen, weil niemals etwas anders wurde und alles nur so ablief, wie es sollte ..."
Auch hier geht es um Kleinigkeiten, wieder die Einzelheiten. "Kandl schaute durch die Scheiben der verglasten Treppe in den Hof, wo das Wasser im steinernen Brunnenbecken hellblau spiegelte. Weil dieser Brunnen aus grünlichem Sandstein und fast hundert Jahre alt war, sah der Hof mit der wartenden Kutsche, die er frisch hatte lackieren lassen und deren Messinglampen mit den Kerzen sauber geputzt waren, unterm braunen und da und dort moospolstrigen Remisendache friedlich aus" - der lange Satz ist aber noch längst nicht zu Ende, er muss sich erst runden - "das Wasser sprudelte im Brunnen, und vor der Tischlerwerkstatt waren silberverzierte Särge schwarz wie Kandls Kutsche."
Der Kutscher August Kandl erhält in der Langfassung ein e, wird zum Kandel, sein Gaul bleibt der Hansel, mit ihm redet er, weil er sonst mit niemandem reden kann, mit niemandem außer der Lili, seiner Nichte, die für die einzige Exaltation in diesem sonst ruhig dahinströmenden Buch sorgt. In der frühen Fassung zockelt Kandl durch Wien, sein stummes Selbstgespräch ist das gleiche. In der Bearbeitung wechselt der Schauplatz von Wien zurück nach Stuttgart, wo Lenz seit Mitte der Sechzigerjahre an diesem Roman schreibt. Der Wappenmaler hat nicht mehr graue, sondern gelbe Haare, statt eines Süßgebäcks isst der Kutscher eine Laugenbrezel, und ob er die "Neue Zeit" noch erleben wird, ist am Ende der siebzig Seiten unwahrscheinlich. Fremd bleibt er sich und fremd ist ihm erst recht die Welt.
Der Kutscher könnte Hofkutscher in Wien werden, fürchtet aber den Beamtenstatus
"Vor deiner Haut beginnt die Fremde", sagt sich Wasik in den "Augen eines Dieners", einem weiteren Lenz-Roman, erschienen 1964, und so innerlich und gegenwartsfern das klingt, es ist doch nicht weit entfernt vom Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der über die volldemokratisierte Bundesrepublik sagen musste; "Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland." In der viel längeren Romanfassung bestätigt sich der apokalyptische Surrealismus, der bereits in der frühen Erzählung aufkommt: "Kandl meinte ab und an etwas zu spüren oder zu bemerken, das sich verschob, als gingen alle Straßen abwärts und die Häuser senkten sich."
Die Gegenwart ist zunächst das Jahr 1912, es kündigt sich aber bereits der Niedergang an, von dem der bevorstehende Weltkrieg nur ein Teil ist. Auf dem Bahnsteig in Stuttgart glaubt der Kutscher Lenin zu sehen, der auf der Fahrt in die Oktoberrevolution kurz den plombierten Wagen verlassen hat. Kandel und Lili graust es vor dem Schmutz und der Brutalität der Nazis, die Erzählung hält sich an die Einzelheiten. Die Knöpfe an den Uniformen glänzen, die Messinglampen blitzen, die Luft steht still, Wien ist wie ein Leben als Wappenmaler unerreichbar fern.
"Ich denke dann in der Vergangenheit herum", schreibt Hermann Lenz bereits 1937 im ersten Brief an seine künftige Frau. Das Wien, in dem Lenz seinen Kutscher zunächst chauffieren lässt, verbindet als Traumstadt den Studenten Lenz mit seiner Freundin Hanne Trautwein, und es muss das alte kaiserlich-königliche Wien sein. 1943 liegt er mit seiner Wehrmachtsdivision vor Leningrad, Hanne arbeitet für den Kunsthändler (oder wie sie weiß und schreibt, den "Schieber") Adolf Weinmüller. Lenz schreibt an der Front an seinem ersten Roman "Das stille Haus", sie kann dienstlich nach Wien fahren, wo er nie war, aber genau Bescheid weiß. So fordert er die Freundin auf, zu dem Haus in der Salesianergasse zu gehen, in dem Hofmannsthal geboren wurde. So wie Anton Reiser davon träumt, bei Goethe, beim Autor des "Werther", Bedienter sein zu dürfen, lässt Lenz seinen erfundenen Stephan Clary aus dem "Stillen Haus" in der Salesianergasse wohnen.
Der fertige, der ausgefaltete Roman vom Kutscher und dem Wappenmaler ist eher eine Schnitzler-Geschichte. Sie erinnert von fern an den "Leutnant Gustl", für den Schnitzler seinen inneren Monolog entwickelt hat. Bei Lenz sind alle Bücher ein einziger innerer Dialog, dem zuzuhören dreihundert, dreitausend und vielleicht auch mehr Lesern gestattet wird.
Lenz wollte nie etwas anderes als Dichter sein, auf keinen Fall in Stellung gehen (der Kutscher Kandel könnte Hofkutscher werden und fürchtet doch den Beamtenstatus), und ob er je nach Wien kommt, ist ihm auf dem Wehrmachtsfeldzug zweifelhaft. "Ich weiß bloß nicht, was ich nach der Vernichtung überhaupt noch anfangen soll", schreibt er an seine Freundin, als München bombardiert worden ist, "vielleicht (oder sehr wahrscheinlich) in irgendeiner niederen Betätigung weiterexistieren, als Aktenschreiber oder sowas."
Lenz konnte dank seiner Frau, die bereits einen Band mit Erzählungen veröffentlicht hatte, aber ihrem Mann zuliebe aufs Schreiben verzichtete, Dichter sein und musste keine Akten abschreiben. In der Erzählung "Erinnerung an Europa" von 1958 berichtet jemand, wie die Tiere der Savanne einen toten Löwen auseinandernehmen: die Geier, die Schakale, die Schlange. "Aber ich ermüde Sie mit Details. Sie leben kultiviert, beschützt von Zivilisationsglätte, ein geschmeidiger Berichterstatter, der besucht den Abenteurer und wird im Blatt erzählen, wie er ihn antraf in einer leeren Kammer, in einem Haus, das abgebrochen wird, auf einem Feldbett hockend, die billigste Zigarettensorte paffend." Lenz kann nichts anfangen mit dieser Kriegsreporterromantik, diese Welt ist ihm zu groß, zu viel. Es sind die Details, die, wie Peter Handke geschrieben hat, einen großen Schriftsteller ausmachen. "So redete es in ihm, und er hörte zu", heißt es einmal in den "Augen eines Dieners". Wer hören kann, der wird das lesen müssen.